Staaten wie Irak und Syrien zerfallen, Christen und der Staat Israel werden attackiert, die Türkei unterstützt die IS-Terroristen. Der Historiker Daniel Pipes über die Herausforderung Nahost. PDF-version. [Dieses Interview fand am 21. Juli 2014 statt.]
factum: Wie sind das plötzliche Auftauchen der Terrorgruppe ISIS im Irak und ihre scheinbar mühelosen Siege zu erklären?
Daniel Pipes: Diese schockierende Entwicklung hat mehrere Ursachen: die Unterdrückung der sunnitischen Bevölkerung im Irak und in Syrien; die geschickte Führung der ISIS; die Unterstützung durch die Türkei und Katar; und die fehlende Legitimation des von den Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten geschaffenen irakischen Staates. Neben diesen Sonderfaktoren gibt es das größere Problem, dass die im Irak lebenden sunnitischen Araber, schiitischen Araber und Kurden eine größere Loyalität zu ihrer jeweiligen Bevölkerungsgruppe haben als zur Zentralregierung. Damit hatte der Zentralstaat seit seiner Gründung nach dem Ersten Weltkrieg bis heute zu kämpfen, und nun bricht er auseinander.
Ist es nicht überraschend, dass ein großer Teil der irakischen Sunniten seinen Unmut ausgerechnet durch Unterstützung der extremsten Dschihadisten kundtut, wo sie doch in der Vergangenheit die Stütze der säkularen Diktatur von Saddam Husseins Ba'ath-Partei waren?
Ja, das ist es – und das ist nur eine von vielen Überraschungen der jüngsten Vergangenheit. Es ist aber auch abzusehen, dass die sunnitische Bevölkerung sich gegen ISIS wenden wird, sobald sie merkt, wie das Leben unter deren Herrschaft ist. Jetzt finden sie den Islamismus attraktiv; warten wir, was passiert, wenn sie mehr davon zu spüren bekommen. Das spektakulärste Beispiel für diesen Lernprozess ist Ägypten in den Jahren 2012/13, aber wir haben das Phänomen auch in Tunesien, Libyen, im Sudan und Iran beobachtet.
Welche Rolle spielt die türkische Regierung in diesem Konflikt?
Sie ist der wichtigste Unterstützer von ISIS. Ohne türkische Unterstützung wäre ISIS nicht da, wo sie ist. Katar ist ebenfalls wichtig, als wichtige Geldquelle, aber die Türkei stellt noch mehr bereit: Waffen, Rückzugsraum, Training und medizinische Versorgung. Es gibt sogar Berichte, wonach in den Rängen der ISIS auch pensionierte türkische Soldaten zu finden sein sollen.
Aber warum sollte die türkische Regierung irgendein Interesse daran haben, entlang ihrer langen Staatsgrenze Unruhen anzufachen?
Erdoğan hatte ein so enges persönliches Verhältnis zu Bashar al-Assad, dass er und seine Frau sogar mit den Assads Urlaub machten. Als die Probleme Anfang 2011 anfingen, gab Erdoğan Assad (guten) Rat, wie er reagieren solle. Aber Assad hat ihn zurückgewiesen, und Erdoğan, der einen sehr wechselhaften Charakter hat, hat sehr wütend reagiert. Seitdem hat Erdoğan alles dafür getan, um das Assad-Regime zu stürzen, einschließlich der Unterstützung von ISIS.
Beste Freunde: 2009, als die Erdoğans und die Assads gemeinsam Urlaub in der Türkei machten. |
Alles geht also zurück auf die gekränkte Eitelkeit eines einzigen Mannes?
Weitestgehend, ja. Erdoğan dominiert die türkische Politik. Vor allem seit den Wahlen von 2011 hat er getan, wonach immer ihm der Sinn stand.
Glauben Sie, dass Präsident Obama – oder irgendein anderer Akteur mit Macht – einen Plan hat, wie die Dschihadkämpfer im Irak und in Syrien gestoppt werden können?
Ich sehe keinen Plan. Westliche Regierungen schicken Waffen, in der Hoffnung, dass diese in die Hände der besseren – oder weniger schlechten – Elemente in Syrien gelangen. Das ist wohl kaum das, was einen Plan ausmacht.
Manche Leute empfehlen, die Kurden zu bewaffnen, die am meisten säkulare und moderate Kraft in Syrien. Wird diese Option in Washington in Betracht gezogen?
Ja, das ist eine gute Idee, die seit einigen Jahren im Schwange ist. Aber das war nie offizielle amerikanische Politik – diese müsste sich stark verändern, damit es dazu käme.
In Europa, Asien und Afrika wurden in den letzten 25 Jahren Grenzen verändert und neue Staaten gegründet. Sollten europäische und amerikanische Politiker sich damit abfinden, dass auch die Landkarte des Nahen Ostens geändert werden muss?
Das wird sie bereits. Es gibt kein Syrien, keinen Irak und zwischen Libanon und Iran so gut wie keine Grenze mehr. Kurdische Autonomieregionen existieren sowohl im Nordirak als auch im Nordosten Syriens. Die westliche Politik muss sich tatsächlich an die neue Wirklichkeit vor Ort anpassen.
Warum fällt es vielen so schwer, das zu begreifen?
Regierungen handeln üblicherweise konservativ und ziehen Stabilität jeglicher Veränderung vor. Das war schon im Falle der Sowjetunion so. George H. W. Bush hielt 1991 in Kiew eine Rede, in der er die Ukrainer drängte, die Sowjetunion nicht zu verlassen. Die Dinge so zu belassen, wie sie sind, ist eine natürliche Reaktion.
Wie wahrscheinlich ist es, dass die Kurden im Irak und in Syrien eine Art Staatlichkeit bekommen werden?
Das ist wahrscheinlich. Die Kurden im Irak sind annähernd unabhängig, sie sind in Syrien als Akteur in Erscheinung getreten, in der Türkei könnten sie nachfolgen. Eines Tages könnten sogar die Kurden im Iran unabhängig werden. Das Entstehen Kurdistans hat weitreichende Folgen für die Region. Es ist die erste große Veränderung der Grenzen im Nahen Osten seit den Nachwehen des Ersten Weltkriegs. Bis 1914 befand sich die Region weitgehend in einer Art Schlaf.
Dann kamen außergewöhnliche Veränderungen, die der Nahe Osten in vielerlei Weise noch verdauen muss: das Sykes-Picot-Abkommen (über die Aufteilung des Nahen Ostens zwischen Großbritannien und Frankreich; d. Red.), die Balfourdeklaration, das San- Remo-Abkommen und die Gründung der meisten heute dort existierenden Staaten. All das ist die noch unfertige Arbeit von vor fast hundert Jahren, die nun endlich angegangen wird.
Sir Mar Sykes (links) und François Georges-Picot klopften 1916 eine Vereinbarung fest, die die Grundlage für die Grenzen im Nahen Osten legten. |
Wenn in der Vergangenheit über die Möglichkeit eines kurdischen Staates gesprochen wurde, kam immer der Einwand, dass die Türkei das niemals erlauben würde. Jetzt scheint sie sich den irakischen Kurden anzunähern. Vor einigen Wochen wurde zum ersten Mal Öl aus den Kurdengebieten des Irak durch eine türkische Pipeline zum Mittelmeer gebracht. Warum diese Wendung?
Ankaras Ansichten haben sich tatsächlich radikal geändert. Die Leitlinie war früher, jedes Emporkommen von kurdischem Nationalismus – wo auch immer – zu verhindern, aus Furcht, dass er in der Türkei ein Echo finden könnte, mit der Gefahr, die Türkei, wie wir sie kennen, aufzulösen. Diese Anschauung hat sich aus einer Reihe von Gründen geändert: Spannungen zwischen Ankara und Baghdad; Anstrengungen der türkischen AK-Partei Erdoğans, die Stimmen kurdischer Wähler zu bekommen; und das Erkennen der Vorteile, die für die Türkei durch befreundete und botmäßige kurdische autonome Staatswesen im Irak und in Syrien erwachsen.
Saudi-Arabien hat gerade 30.000 Soldaten an die Grenze zum Irak beordert. Gibt es die Gefahr eines Übergreifens des Konflikts?
Ja. Obgleich die Legitimation des saudischen Königreichs auf dem Koran und dem besonders strengen Verständnis des Islam beruht, weist ISIS die saudische Monarchie als zu wenig islamisch zurück. Darum stellt ISIS eine Gefahr dar, für die saudische Legitimität, die Kontrolle über die heiligen Stätten des Islam und die Ölvorkommen – für alles, was saudisch ist. Ich würde noch weiter gehen: So erpicht ISIS auch darauf sein mag, Syrien und den Irak zu kontrollieren, sind Medina und Mekka doch ihre eigentlichen langfristigen Ziele.
Könnte die unterdrückte Schiitengemeinde in Saudi-Arabien versuchen, die Situation auszunutzen, um dem saudischen König ihrerseits Probleme zu bereiten?
Das würde mich überraschen. Wie unglücklich sie auch mit den Verhältnissen sein mag, ist die Aussicht auf eine Herrschaft der ISIS noch viel schlimmer. Ich glaube nicht, dass jetzt für sie der richtige Zeitpunkt ist, um sich gegen die saudische Monarchie zu erheben.
In der Türkei bewirbt sich Erdoğan für das Präsidentenamt, weil er nach den Statuten seiner Partei kein weiteres Mal als Ministerpräsident kandidieren darf. Laut Verfassung hat der Präsident weniger Macht als der Premier. Heißt das, dass Erdoğan geschwächt wird?
Es war immer klar, dass Erdoğan sich nicht mit der traditionell beschränkten Macht des Präsidentenamts zufriedengeben wird. Zudem können wir annehmen, dass er Kontrolle über seinen Nachfolger als Premierminister ausüben wird. Dieser Amtswechsel wird Erdoğans Autokratie nicht beenden, sondern sie in einer neuen Form ausdehnen. Die Putin-Medwedew-Analogie ist nützlich: So, wie Putin immer Russland dominiert hat, unabhängig von seiner jeweiligen Position, so wird Erdoğan weiter die Türkei beherrschen.
Zwischen ihm und der islamistischen Gülen-Bewegung soll es ein Zerwürfnis geben, manche reden gar von einem "Krieg".
Ja, ein politischer Krieg ist im Gange. Beide Kräfte haben zwölf Jahre lang eng zusammengearbeitet und dabei einander ergänzt. Erdoğan und die AKP konzentrierten sich auf die Politik, während Gülen sich um die Kultur, Bildung, die Medien, die Geheimdienste und die Polizei gekümmert hat. Das hat gut geklappt, bis 2010, als sie sich keine großen Sorgen um einen etwaigen Militärputsch mehr gemacht haben. Ab diesem Zeitpunkt wurden die ersten Differenzen öffentlich bemerkbar. Seither sind die beiden Lager erbitterte Feinde geworden. Sie stimmen zwar in den meisten Punkten überein, sind aber Rivalen im Kampf um die Macht. Erdoğan sieht sich jetzt nicht mehr in erster Linie Angriffen durch Säkulare, das Militär, Liberale oder Kurden ausgesetzt – sondern durch seinen früheren Verbündeten, Fethulla Gülen. Es ist gut möglich, dass sie diesen Konflikt weiterführen, bis einer von beiden vernichtet ist.
Aber mit wenigen Ausnahmen wie etwa Khomeini waren doch Oppositionelle im Exil in ihren Heimatländern nie besonders einflussreich. Wie kann Fethulla Gülen in der Türkei so mächtig sein, wo er doch in Pennsylvania lebt?
Gülen hat seine Karriere in der Türkei gemacht, bis er 1998 in die USA floh. Er hat in der Türkei immer noch eine gewaltige Anhängerschaft, es könnten fünf Millionen Menschen sein. Darüber hinaus hat seine Hizmet-Bewegung großen Einfluss auf die Geheimdienste und die Polizei. Es gibt auf der ganzen Welt keine vergleichbare Organisation, sie ist einmalig.
Die offiziell letzte Runde der Verhandlungen über das iranische Nuklearprogramm zwischen der P5+1-Gruppe und Iran läuft. Wie lässt sich der bisherige Verlauf zusammenfassen?
Die Iraner haben die P5+1 erfolgreich davon überzeugt, die meisten der iranischen Hauptforderungen zu akzeptieren. Jetzt verlangen sie immer mehr, einschließlich 190.000 Zentrifugen. Ihre Forderungen sind so maßlos, dass es selbst der nachgiebigen P5+1 widerstrebt, ihnen nachzugeben. Es ist nicht klar, was sie zu diesen Forderungen anstiftet. Die Iraner denken sich vielleicht, dass der Westen so schwach ist, dass er selbst solch eine extreme Bedingung akzeptieren wird.
Den einst blühenden christlichen Gemeinden im Irak und in Syrien droht die Auslöschung. Überlegt man in Washington, was man dagegen unternehmen kann?
Die amerikanische Öffentlichkeit und ihre Vertreter im Kongress sind extrem besorgt darüber – die Obama-Administration viel weniger. Ein republikanischer Präsident würde angesichts dieser Katastrophe viel energischer handeln.
Die Hamas hat einen neuen Terrorkrieg gegen Israel begonnen. Warum jetzt?
Das sind vertretbare Gründe, aber es gibt auch noch weitere: Der Krieg sichert ihr Unterstützung in Gaza. Hamas möchte Mahmoud Abbas und der palästinensischen Autonomiebehörde Probleme bereiten. Sie möchte die Spannungen in Israel verschärfen, besonders die israelischen Araber zum Aufstand anzustacheln. Man denke daran, dass die gegenwärtige Gewalt mit der Entführung dreier israelischer Teenager begann und die Hamas nur einen Tag später ihren derzeitigen Raketenkrieg anfing. Sie will vielleicht auch mehr Geld aus dem Iran und mehr Selbstmordbomber rekrutieren.
Haben die Terroristen jeden Rest von Verstand verloren?
Es ist anzumerken, dass dies kein normaler Krieg ist. In einem herkömmlichen Krieg ist der militärische Sieg das, um was es geht – nicht in diesem Fall. Es ist offensichtlich, dass Israel auf dem Schlachtfeld gewinnen wird. Darum geht es nicht in erster Linie, sondern um eine politische Frage: Benutzt Israel gerechtfertigte Mittel? Ist die Gewalt verhältnismäßig? Hält es sich an internationales Recht? Folgt es den Regeln des Krieges?
Das Augenmerk ist nicht mehr länger auf das Gewinnen oder Verlieren gerichtet, sondern auf die Wahrnehmung der Art des Kämpfens. Hier hofft die Hamas zu gewinnen: Sie will Israelis dazu provozieren, unschuldige Frauen, Kinder, Passanten und andere Zivilisten zu töten, so dass die Kritik an Israel wächst: Resolutionen der Vereinten Nationen, EU-Sanktionen, Demonstrationen auf den Straßen des Westens usw. Es geht allein darum, den politischen Krieg zu gewinnen, den Public-Relation-Krieg.
Bilder von mutmaßlich toten Babys sind für die Hamas machtvoller als Raketen oder Tunnel. |
Wie kann Israel seinen Krieg – den um die Sicherheit des Lebens seiner Bürger – gewinnen? Ist es überhaupt vorstellbar, dass es die Terrororganisationen Hamas und Islamischer Dschihad entwaffnen kann, so dass diese nicht mehr morden können?
Ja, das ist es – wenn Israel wieder die komplette Kontrolle über den Gazastreifen übernimmt und zum status quo ante vor dem Gaza-Jericho-Abkommen von 1994 zurückkehrt. Die israelischen Streitkräfte sind dazu in der Lage, aber die politische Führung in Israel will das nicht. Sie möchte weniger über Gaza regieren, nicht mehr. Sie möchte nicht besetzen, nicht stärker eingebunden werden und für die Sicherheit und Ernährung einer feindlichen Bevölkerung verantwortlich sein. Darum ist eine Rückkehr nach Gaza ungefähr das Letzte, was die Israelis wünschen.
Was ist die Lösung für den von der Hamas begonnenen Konflikt?
Die von mir bevorzugte Lösung wäre es, wenn die ägyptische Regierung wieder die Verantwortung für Gaza übernähme, wie sie es von 1949 bis 1967 getan hat. Die zweitbeste Lösung wäre, dass Ägypten die Grenzen Gazas hermetisch abriegelt, so dass keine Waffen mehr zur Hamas gelangen können.
Dr. Daniel Pipes, Historiker, ist Direktor des Middle East Forum in Philadelphia und Forscher an der Hoover Institution der Stanford Universität in Kalifornien. Er unterrichtete an der University of Chicago, der Harvard University, dem U.S. Naval War College und der Pepperdine University. Pipes studierte sechs Jahre im Ausland, davon drei in Ägypten. Er spricht Französisch und liest Arabisch und Deutsch. Er ist Autor von zwölf Büchern und einer viel beachteten Webseite, DanielPipes.org. Zwei US-Präsidenten haben Pipes in Regierungspositionen berufen. Al-Qaida hat ihn eingeladen, zum Islam zu konvertieren.