![]() Durchgehendes Grün zeigt eine alawitische Mehrheit an und teilweises Grün eine bedeutende alawitische Minderheit. |
Niemand weiß, wie viele unbewaffnete Alawiten zwischen dem 6. und 10. März in Syrien getötet wurden. Professor Joshua Landis von der Universität Oklahoma schätzt, dass es mehr als 3.000 sind.
Die Alawiten, die in Syrien eine vergleichsweise kleine Religionsgemeinschaft von vielleicht 10 Prozent der Bevölkerung des Landes (15 Millionen) bilden, leiden unter einer besonderen Bekanntheit und Vulnerabilität. Ein Jahrtausend lang galten sie als die am meisten isolierte, verarmte, verachtete und unterdrückte ethnische Gruppe Syriens. Erst als eine Gruppe Generäle aus ihrer Gemeinschaft im Jahr 1966 die Macht in Damaskus übernahm, änderte sich das Machtgefüge.
Die jüngsten Ereignisse deuten in bedrohlicher Weise auf ein Verlangen nach Vergeltung von sunnitischer Seite hin. Um dessen Ursprung und Implikationen zu verstehen, muss man einen Blick in die Vergangenheit werfen.
Der Islam behauptet von sich, die absolute Religion zu sein; dementsprechend wurde der Alawismus, eine neue und eigenständige Religion, die im neunten Jahrhundert aus dem schiitischen Islam hervorgegangen war, von Sunniten und Schiiten gleichermaßen historisch verfemt. Beide betrachteten Alawiten als Abtrünnige. Ein sunnitischer Sheik aus dem 19. Jahrhundert, Ibrahim Almaghribi, erklärte Alawiten für Moslems als vogelfrei, und ein britischer Reisender berichtet, ihm sei erzählt worden: "Es ist besser, einen Alawiten zu töten, als einen ganzen Tag zu beten."
Während der letzten zwei Jahrhunderte, in denen sie regelmäßig verfolgt und mitunter massakriert wurden, isolierten sich die Alawiten geografisch von der Außenwelt, indem sie in ihrem angestammten syrischen Hochland blieben. Ein führender Alawiten-Scheich nannte sein Volk "eines der ärmsten des Ostens". Der anglikanische Missionar Samuel Lyde empfand den Zustand der alawitischen Gesellschaft als "die Hölle auf Erden".
Nach der Unabhängigkeit Syriens von der französischen Herrschaft im Jahr 1946 widersetzten sich die Alawiten zunächst der Kontrolle durch die Zentralregierung, versöhnten sich jedoch bis 1954 mit der syrischen Staatsbürgerschaft und begannen, ihre Überrepräsentation in der Armee für ihren politischen Aufstieg zu nutzen.
Alawiten spielte eine wichtige Rolle im Baath-Putsch von 1963, nahm viele Schlüsselpositionen ein und säuberte diese von sunnitischen Konkurrenten. Diese Entwicklungen gipfelten darin, dass eine Gruppe von hauptsächlich alawitischen baathistischen Militäroffizieren 1966 die Macht an sich riss. Im letzten Duell kämpften zwei Alawiten-Generäle, Salah Jadid und Hafez Al-Assad, um die Vorherrschaft – eine Rivalität, die erst 1970 endete, nachdem Assad sich durchgesetzt hatte.
Konfessionelle Zugehörigkeit blieb während der 58 Jahre der Alawiten-Herrschaft von Hafez al-Assad (1970 bis 2000) und seinem Sohn Bashar (2000 bis 2024) von entscheidender Bedeutung. Hafez baute Syrien zu einem brutalen Polizeistaat um und sicherte ihn durch alawitische Kontrolle, indem er seine Glaubensbrüder in allen Ebenen der Regierung positionierte.
Bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs im Jahr 2011 machten die Sunniten etwa 70 Prozent der Bevölkerung Syriens aus. Abgesehen von den reinen Zahlen regierten sie historisch gesehen die Region, was einen zu der Annahme verleitete, dass sie nun auch die Früchte der Macht genießen konnten. Nach 1970 dienten sie jedoch hauptsächlich als Makulatur. In den markigen Worten eines Armeeveteranen "hat ein alawitischer Hauptmann mehr zu sagen als ein sunnitischer General."
Die psychologischen Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Sunniten können nicht dramatisch genug eingeschätzt werden. Für einen Sunniten ist ein Alawit, der in Damaskus regiert, vergleichbar mit einem "Unberührbaren", der Maharadscha wird oder einem Juden, der zum Zar aufsteigt – eine beispiellose und schockierende Entwicklung. Michael van Dusen vom Wilson Center nennt diese Verschiebung zu Recht "die bedeutendste politische Tatsache der syrischen Geschichte und Politik des 20. Jahrhunderts".
Die hier beschriebene Machtumkehr führte dazu, dass sunnitische Muslime die totalitäre Repression Assads auf sektiererische Weise wahrnahmen. Die Assads bemühten sich, sich als Muslime zu präsentieren, aber nur wenige syrische Sunniten akzeptierten sie als solche.
![]() König Faisal von Saudi-Arabien (Mitte) und Hafez al-Assad (mit Gebetskette) beteten am 18. Juli 1975 in Damaskus. |
Die Machtergreifung der Alawiten im Jahr 1966 provozierte die religiösen Aversionen der Sunniten. Ihr Leiden gärte weiter, während sie die Herrschaft von Menschen ertragen mussten, die sie als minderwertig betrachteten. Sie litten in allen Aspekten des täglichen Lebens unter Diskriminierung; so musste beispielsweise ein sunnitischer Haushalt viermal so viel für seine Stromversorgung bezahlen wie ein alawitischer). Sie lebten in Erinnerung an das Hama-Massaker von 1980 und anderer brutaler Übergriffe, sie verachteten den Sozialismus, der ihren Reichtum vernichtet hatte, die unwürdigen Handlungen gegen den Islam und die so empfundene Zusammenarbeit mit den Maroniten und Israelis.
Ein Teufelskreis setzte ein. In dem Maße, in dem die Sunniten zunehmend entfremdet wurden, wurden die Alawiten immer mehr von der alawitischen Staatsmacht abhängig. Während das Regime immer mehr alawitisch besetzt war, verstärkte sich die sunnitische Unzufriedenheit.
Als im Jahr 2011 die islamistische Rebellion in der Region Syrien erreichte, begann ein erbarmungsloser 14-jähriger, hauptsächlich sunnitischer Aufstand gegen die Regierung von Bashar al-Assad, die schätzungsweise 7,5 Millionen intern Vertriebene und 5,2 Millionen externe Flüchtlinge erzeugte und rund 620.000 Opfer forderte.
Im Inland stützte sich das Regime zunehmend auf seine alawitische Basis. Der Nachrichtendienst Reuters berichtet, wie Bashar "Armee- und Geheimpolizei-Einheiten mit (alawitischen) Beamten (...) in hauptsächlich sunnitische städtische Zentren schickte, um Demonstrationen zu unterdrücken, die seine Entfernung aus dem Amt forderten".
Folgende Zitate belegen die Intensität der sunnitischen Feindseligkeit:
- Adnan al-Arour, ein sunnitischer religiöser Führer, erklärte in Bezug auf Alawiten, die sich dem sunnitischen Aufstand widersetzten: "Ich schwöre bei Gott, wir werden sie durch den Fleischwolf drehen und ihr Fleisch den Hunden zum Fraß vorwerfen."
- Der syrische sunnitische Anführer Mamoun al-Homsi äußerte: "Ihr verabscheuungswürdigen Alawiten, von diesem Tag an (werden) wir nicht schweigen. Auge um Auge und Zahn um Zahn (...) Ich schwöre, wenn Ihr Euch nicht von dieser Bande lossagt, werden wir Euch eine Lektion erteilen, die Ihr nie vergessen werdet. Wir werden Euch aus Syrien hinauskehren."
- Ibtisam, ein in Jordanien lebender 11-jähriger sunnitischer Flüchtling gibt zu Protokoll: "Ich hasse die Alawiten und die Schiiten. Wir werden sie mit unseren Messern töten, genau wie sie uns getötet haben."
- Hisza, 13: "Nach der Revolution werden wir sie töten." Auch ein Kind in Deinem Alter? "Ich werde es töten. Es spielt keine Rolle."
Solche Aussagen haben die kleine Gemeinschaft der Alawiten erschreckt, was nicht überraschen sollte. Wilde Gerüchte verbreiteten sich, wie die apokryphe Metzgerin in Homs, die die Shabiha, die bewaffnete zivile Miliz, bat, "ihr die Körper der gefangenen Alawiten zu bringen, damit sie sie zerteilen und ihr Fleisch vermarkten kann".
Die New York Times berichtete: "Viele Alawiten sind verängstigt; sie sind oft Ziel der vulgärsten Stereotypen und gelten in der öffentlichen Diskussion als identisch mit der politischen Führung."
Schlimmer noch, viele Alawiten litten unter der Regierung von Assad. Wafa Sultan, ein verbannter Arzt, erzählt über die vielen Ungerechtigkeiten, einschließlich vorsätzlicher Verarmung (um sicherzustellen, dass ihre Söhne der Regierung dienen mussten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen), die Verfolgung von Intellektuellen und die Inhaftierung von Verwandten von Dissidenten. Dementsprechend freuten sich viele Alawiten über Assads Fall.
Dann kamen die überraschenden Ereignisse von Anfang Dezember 2024, als die sunnitischen islamistischen Streitkräfte der Hay'at Tahrir al-Sham unter der Führung von Ahmed al-Sharaa zusammen mit ihren Verbündeten im Eiltempo durch Syrien fegten. Sie nahmen Damaskus, und Assad floh nach Russland.
![]() Ahmed al-Sharaa treue Streitkräfte an der Mittelmeerküste in Latakia am 9. März. |
In den ersten drei Monaten des neuen Regimes gab es zwar einige sunnitische Vergeltungsaktionen gegen die Alawiten, diese waren aber begrenzt und nicht organisiert: Arbeitsplatzverluste, Belästigungen und kleinere Ausbrüche von Gewalt. Ende Januar 2025 dokumentierte der syrische Journalist Ammar Dayoub Fälle "von sektiererischen Flüchen gegen Alawiten und Schiiten, bis hin zu Pogromen, bei denen die Männer auf den Plätzen zusammengetrieben und ausgepeitscht wurden. Möbel in Wohnungen wurden zerschlagen, Gold und Silber gestohlen, und Gewaltakte gegen Frauen fanden statt".
Als Reaktion darauf, so Dayoub, wies das Regime die Verantwortung für diese Vorfälle von sich und beschuldigte einzelne Personen oder kleine lokale Fraktionen. Darüber hinaus berichtet das Media Research Institute des Nahen Ostens: "Das Regime unterließ auch die Veröffentlichung der Namen der Verantwortlichen und verhinderte so, dass die Familien der Opfer rechtliche Schritte gegen diese ergreifen konnten." Dies führte zur Gründung von alawitischen Widerstandsgruppen, die das Regime sofort als "Assad-Loyalisten" verunglimpfte.
Dann am 6. März kamen die groß angelegten Angriffe, hauptsächlich in der Küstenregion der Alawiten, Latakia, einer Provinz im Nordwesten Syriens. Die sunnitischen Streitkräfte, darunter die türkisch unterstützte syrische Nationalarmee und ausländische Dschihadisten, wüteten, fackelten Häuser ab und töteten wahllos. Die HTS-Regierung rechtfertigte dies als Verteidigung gegen einen Aufstand von "Assad-Loyalisten".
![]() Sunnitische Streitkräfte verlassen Idlib am 8. März und ziehen nach Latakia, um gegen die Alawiten zu kämpfen. |
Die Alawiten aber hatten in der Assad-Ära bereits schwer gelitten und noch mehr während des Bürgerkriegs, so dass sie Bashar in seiner Stunde der Not bereits aufgegeben hatten, obwohl sie ihn hätten retten können. Während Assad in Russland hockte, die iranische Unterstützung zusammengebrochen war und die israelischen Streitkräfte alle Arsenale des alten Regimes zerstört hatten, bildeten sie für ihn keine Nachhut mehr. Angriffe dieser "Widerstandsgruppen" auf die staatlichen Kräfte spiegelten vielmehr Befürchtungen wider, verfolgt zu werden.
Im Gegensatz zur Zeit des Bürgerkriegs, als Sunniten ihrer Wut auf die Alawiten freien Lauf ließen, gerieten sie 2025 unter Druck, sich von ihrer besten Seite zu zeigen, damit al-Sharaa ausländische NGOs und Regierungen davon überzeugen konnte, seinem Regime zu helfen. Blickt man genauer hin, so wurde schnell deutlich, dass die März-Angriffe als Rache für das dienten, was ein sunnitischer religiöser Gelehrter, Abdallah Khalil al-Tamimi, als die zwei Millionen Sunniten bezeichnete, die vom "Alawiten-Regime ... aus sektiererischen Gründen" getötet worden waren.
Die Rache der Sunniten
In Damaskus ermutigte ein Radiomoderator seine Hörer dazu, "die Alawiten ins Meer zu treiben". Ein HTS-affiliierter Befehlshaber rief: "Oh Krieger des Dschihad, lasst keine Alawiten, männlich oder weiblich, am Leben. Schlachtet die angesehensten Männer unter ihnen. Schlachtet die angesehensten Frauen unter ihnen. Schlachtet sie alle, einschließlich der Kinder in ihren Betten. Sie sind Schweine. Ergreift sie und werft sie ins Meer."
Viele Täter waren stolz auf ihre Handlungen und nahmen ihre Handlungen auf, z.B. die Ermordung zweier Söhne vor den Augen ihrer Mutter. "Dies ist Rache", schreit ein Mann, der Häuser von Alawiten plündert und niederbrennt. Die Sunniten demütigten die Alawiten, so der Economist, und zwangen sie, "wie Hunde zu bellen, sich auf ihre Rücken zu setzen, sie zu reiten und sie dann zu erschießen".
Auf dieses Gemetzel reagierte al-Sharaa seelenruhig. "Was derzeit in Syrien passiert, gehört zu den erwarteten Herausforderungen. Wir müssen die nationale Einheit und die öffentliche Sicherheit bewahren", sagte er. "Wir fordern die Syrer zur Beruhigung auf, weil das Land die Fähigkeit und die Grundlagen zum Überleben hat." Dazu setzte er eine Untersuchungskommission ein.
Dass HTS-Führer aus den Reihen von Al-Qaida und dem islamischen Staat hervorgegangen sind, verleiht ihrem Auftreten in Anzug und Krawatte einen Hauch von Theater. Nun führen sie freundliche Gespräche über Menschenrechte, während sie die Alawiten für die Gewalt verantwortlich machen. Westliche Akzeptanz bringt schließlich viele finanzielle und andere Vorteile.
Einige sprechen bereits von Völkermord. Der kurdische syrische Schriftsteller Mousa Basrawi beklagt "eine organisierte Völkermord-Kampagne ... mit dem Ziel der Ausrottung der Alawiten". Die Organisation Christian Solidarity International gab eine "Völkermordwarnung" heraus, angesichts einer "Orgie gezielter Morde und begleitender Hassreden".
Die öffentliche Reaktion auf diese Bedrohung? Beschämtes Schweigen. Keine Solidaritätsmärsche in westlichen Hauptstädten, keine Protestlager an Universitäten. Und westliche Regierungen? Canberra "verurteilt die jüngste schreckliche Gewalt in der syrischen Küstenregion" und ist "zutiefst besorgt von UN-Berichten, dass viele Zivilisten aus der Gemeinschaft der Alawiten kurzerhand hingerichtet wurden". Washington "verurteilt die radikalen islamistischen Terroristen, einschließlich ausländischer Dschihadisten, die in den letzten Tagen in Westsyrien Menschen ermordet haben". Die Vereinigten Staaten verurteilen "erschütternde Verstöße und Missbräuche".
Verurteilungen sind notwendig, aber nicht ausreichend. Die entschiedene Ablehnung islamistischer Aggression stellt ein westliches Kerninteresse dar, und moralische Verantwortung erfordert dringendes Handeln, um einen möglichen Völkermord zu vermeiden.
Wir bitten um Entschuldigung
Die Untätigkeit der USA während des Völkermordes in Ruanda im Jahr 1994 führte im Nachhinein zu Entschuldigungen (Bill Clinton: "Ich bedauere meinen persönlichen Misserfolg"). Ebenso wie die niederländischen Misserfolge in Bosnien (Verteidigungsministerin Kajsa Ollongren: "Wir entschuldigen uns in aller Form").
Werden Politiker dieses Mal handeln, schon um zu vermeiden, sich später entschuldigen zu müssen?
Daniel Pipes ist Gründer des Middle East Forum. Dieser Artikel fußt auf drei seiner Bücher über Syrien und einer Analyse aus dem Jahr 1987 mit dem Titel "Syrien nach Assad".