Geht man nach den Berichten in den Nachrichten, könnte man glauben, der palästinensische Nationalismus sei schon so lange aktiv, wie Juden und Araber am östlichen Rand des Mittelmeeres gelebt haben. Und da Yassir Arafat seit seiner Ausrufung des Palästinenserstaats auf dem hohen Ross sitzt, gibt es eine verständliche Tendenz im Westen für bare Münze zu nehmen, dass er darauf besteht, die Palästinenser hätten immer nach einem unabhängigen Staat gestrebt. In Wirklichkeit ist das aber alles andere als wahr.
Die Vorstellung eines arabischen Staates, der sich zwischen den Jordan und das Mittelmeer schmiegt, ist vielmehr ein Konzept des zwanzigsten Jahrhunderts. In der Tat können seine Ursprünge mit überraschender Präzision auf ein einziges Jahr zurückgeführt werden: 1920. Im Januar 1920 gab es so gut wie keinen palästinensischen Nationalismus; bis Dezember dieses kritischen Jahres war er geboren worden.
Die Ereignisse von 1920 beschreiben die aktuellen Erfolge und Kümmernisse der Palästinenserbewegung. Sie lassen einige bleibende Themen ahnen, so das Potenzial für schnellen Wandel und die wichtige Rolle der westlichen Mächte. Sie bieten zudem Einblick in das am breitesten unterstützte, aber möglicherweise erfolgloseste nationalistische Anliegen dieses Jahrhunderts.
Die Britische Gründung Palästinas
Der palästinensische Nationalismus kann nicht uralt sein. Fürs Erste entstand Nationalismus überhaupt erst im späten achtzehnten Jahrhundert in Europa und fasste unter den Muslimen erst weit später Fuß. Bis in die Anfangsjahre des 20. Jahrhunderts dachten die Vorfahren der heutigen Palästinenser von sich hauptsächlich in Begriffen der Religion. Der Islam betonte die Bande zwischen Glaubensgenossen und gestattete wenig Spielraum für territorial gebundene Loyalitäten unter Muslimen. Ob es uns nun gefällt oder nicht, Anhänger anderer Religionen fanden sich ebenfalls entlang religiöser Linien aufgestellt. Glaubensbrüder teilten starke Bande, aber sie hatten wenige Bande außerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft. Religiöse Linien wurden zu Wohnbereichslinien; außer zu bestimmten wirtschaftlichen oder politischen Zwecke fand wenig Vermischung statt. Ein Gefühl gemeinschaftlicher politischer Identität fehlte völlig. Zusätzlich zu den religiösen Banden war Loyalität in erster Linie an die Familie gebunden; dann kamen andere genealogische Beziehungen sowie einige ethnische, regionale, sprachliche und Klassenverbindungen.
Als der Nationalismus aus Europa im Nahen Osten ankam, faszinierte er die Menschen dort genauso stark, wie er es bei anderen Völkern tat. Der Traum, dass Regierungen den Geist ihres Volkes verkörpern, war natürlich etwas völlig Fremdes, aber er reizte viele. Das Problem war im Nahen Osten, wie an den meisten anderen Orten, das nationale Ideal exakt anzulegen. Wo würden die Grenzen gesetzt? Stellten die maronitischen Christen eine eigene Nation dar? Wie war es mit den Christen der Levante? Den Syrern? Den Arabern? Den Muslimen? In den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts nahmen Theoretiker jedes dieser Völker als Grundlage für bombastische Pläne für die von ihnen bevorzugte Nation.
Doch nicht ein einziger Autor hatte Vorstellungen von einem palästinensischen Staat – aus gutem Grund. Palästina war immer und blieb zur damaligen Zeit ein jüdisches und christliches Konzept, das den Muslimen absolut fremd war. Es gibt im Islam nichts, das Eretz Yisarel und Terra Sancta entspricht. Muslime betrachten den Hedschas, nicht Palästina, als ihre heiligsten Grenzen. Darüber hinaus hat es nie einen unabhängigen Staat Palästina gegeben, der von Muslimen regiert wurde; wenn solche Staaten ins Leben gerufen wurden, dann wurden sie entweder von Juden oder von Christen regiert.
Muslimischer Widerwille schon für die Vorstellung eines Palästina wurde im April 1920 bestätigt, als die britische Obrigkeit ein palästinensisches Gebilde gestaltete. Die Reaktion der Muslime war eine des extremen Misstrauens. Sie sahen in der Abgrenzung dieses Territoriums einen Sieg der Zionisten; in ihren paranoideren Momenten glaubten sie sogar, das spiegele nachklingende Kreuzritter-Impulse bei den Briten. Im Gegensatz dazu jubelten die Zionisten über die formelle Definition eines Palästina, was sie korrekterweise als wichtigen Schritt auf dem Weg zu Theodor Herzls Judenstaat betrachteten. (Mit anderen Worten: Der Begriff "Palästina", der heute die arabische Ablehnung Israels symbolisiert, diente den Juden vor nicht allzu langer Zeit als Symbol des jüdischen Nationalismus.)
Dieser Punkt kann gar nicht überbetont werden. Palästina wurde durch die britischen imperialen Behörden geschaffen, nicht von Arabern; darüber hinaus fühlten sich die Muslime davon, dass die Briten ein ausgeprägt palästinensisches Gebilde gestalteten, besiegt. Ich kenne keinen Palästinenser, der diese Tat begrüßte, als sie 1920 stattfand. Im Gegenteil, jede aufgezeichnete Meinung legt erbitterte Gegnerschaft nahe.
Anfang der 1920-er Jahre: Die Hochphase des Pan-Syrismus
Wie sah dann das Ziel der Araber aus, die zwischen Jordan und Mittelmeer lebten? Welche politische Einheit hätten sie begrüßt? Insofern es eine proto-nationale Einheit östlich des Mittelmeeres gab, wurde sie nicht Palästina genannt, sondern Scham, die historische Region Syriens, zu der die modernen Staaten Syrien, Libanon, Israel und Jordanien gehören. Diese Wahl spiegelt eine grundsätzliche Tatsache zur Levante, die heute oft vergessen wird: Scham, üblicherweise als "Groß-Syrien" übersetzt, war eine echte, uralte ökologische und kulturelle (aber nicht politische) Einheit.
Wie Ägypten, Arabien, der Jemen und die anderen großen traditionellen Einheiten des Nahen Ostens, hat sie geografische Grenzen und ökologische Grenzcharakteristika, die sie von angrenzenden Gebieten absetzen. Sie bildet den westlichen Teil des Fruchtbaren Halbmonds, einer Trockenregion, die Leben nur ermöglicht, wenn man – und nur dann – sie mit großer Sorgfalt behandelt. Einwohner dieser Region haben eine gemeinsame physische Typologie und eine ausgedehnte Familienstruktur. Sie sprechen Arabisch mit einer ausgeprägten Melodie und bereiten Essen auf ähnliche Weise zu. Direkt nach dem Ersten Weltkrieg forderte ein Treffen von Arabern ein geeintes Syrien auf der Grundlage, dass "die Menschen Arabisch sprechen, sie miteinander verheiratet sind und viele verwandtschaftliche Verbindungen haben; und sie sind seit Ewigkeiten untereinander frei umhergezogen."
Allerdings waren pansyrische Empfindungen vor dem Ersten Weltkrieg extrem schwach; Großsyrien war immerhin etwas Proto-nationalistisches. Aussagen zu diesem Thema sind einhellig. Der gut informierte Autor eines britischen Reiseführers für Großsyrien vermerkte Mitte des 19. Jahrhunderts: "Patriotismus ist unbekannt. Es gibt nicht einen Mann im Land, ob Türke oder Araber, Mohammedaner oder Christ, der einen Para [Penny] geben würde, das Reich vor dem Untergang zu retten; jedenfalls wenn er nicht im Dienst der Regierung steht... Der Patriotismus des Syrers beschränkt sich auf die vier Wände seines eigenen Hauses; alles darüber hinaus berührt ihn nicht." Gertrude Bell, eine sachkundige britische Beobachterin, schrieb 1907: "Syrien ist nur ein geografischer Begriff, der nichts mit dem nationalen Gefühl in der Brust der Einwohner zu tun hat." K.T. Khaïrallah stellte 1912 fest: "Die Syrische Gesellschaft gab es in der Vergangenheit nicht. Es gab nichts außer eigenständigen und oft feindseligen Gruppen... Die Gesellschaft war auf einen Despotismus der brutalen Gewalt gegründet, geformt nach dem Modell der Herrscher."
Am Ende des Ersten Weltkriegs, im November 1918, hatte die Vorstellung einer syrischen Nation dann bei den Arabern Palästinas beträchtliche Fortschritte gemacht. Sie stimmten bezüglich der Existenz einer syrischen Nation fast einmütig überein. Mit wenigen Ausnahmen identifizierten sie sich mit der syrisch-arabischen Regierung in Damaskus, die von Prinz Faysal geführt wurde, einem Mitglied der Haschemitenfamilie. Der palästinensische Enthusiasmus für pan-syrische Einheit nahm bis zur Mitte der 1920-er Jahre stetig zu.
Es gibt reichlich Belege für diesen Enthusiasmus. Drei wichtige palästinensische Organisationen traten unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg für pansyrische Ideen ein: der Arabische Club, der Literaturverein und die Muslimisch-Christliche Gesellschaft. (Beachten Sie, dass keiner dieser Namen irgendwie Palästina beinhaltet.) Die ersten zwei Gruppen gingen am weitesten und riefen offen zur Einheit mit Syrien unter Faysal auf. Selbst die Muslimisch-Christliche Gesellschaft, eine Organisation traditioneller Führer – Männer, die erwarten würden in der Regierung zu sein, wenn Palästina unabhängig würde – forderten die Eingliederung nach Großsyrien.
Die Muslimisch-Christliche Gesellschaft veranstaltete im Januar/Februar 1919 einen Kongress, um Forderungen zu formulieren, die der Pariser Friedenskonferenz vorgelegt werden sollten. Repräsentanten von vierzehn palästinensischen Städten legten eine Petition vor, die forderte Südsyrien solle "untrennbar mit der unabhängigen arabisch-syrischen Regierung verbunden sein". Die Delegierten betrachteten Palästina als "durch nationale, religiöse, linguistische, moralische, wirtschaftliche und geografische Bande" an Syrien gebunden. Auf Grundlage dieser Sicht forderten sie, dass ein Palästina "nicht von der unabhängigen arabisch-syrischen Regierung getrennt" bleibt.
Musa Kazim al-Husseini, Leiter des Jerusalemer Stadtrats (praktisch Bürgermeister) sagte einem zionistischen Gesprächspartner im Oktober 1919: "Wir fordern, dass es keine Trennung von Syrien gibt." Nach Angaben von Ahmed ash-Schuqayri (der Mann, der in den 1960-er Jahren die PLO führte) war der allgegenwärtige Wahlspruch 1918/19: "Einheit, Einheit vom Taurus [Gebirge] bis nach Rafah [im Gazastreifen], Einheit, Einheit." Derselbe Appell kam aus allen anderen Ecken. Eine Sängerin in Ramallah ermutigte ihre "hingerissenen Zuhörer sich Faysals Kräften anzuschließen. Ausgerechnet aus San Salvador ging im März 1919 ein Protest der "syrischen Palästinenser" an internationale Führer aus, mit dem "keine Trennung von Syrien und Palästina" gefordert wurde. Dabei wurde der Hoffnung Ausdruck gegeben, das "Syrien und Palästina vereint bleiben". Die Salvadorianer erklärten: "Wir hoffen, wenn Syrien und Palästina vereint bleiben, werden wir nie vom jüdischen Joch versklavt werden."
Im Februar 1920 trat in Damaskus ein Kongress der Palästinenser zusammen und setzte sich deutlich für pan-syrische Einheit ein. Ein Redner behauptete, dass Palästina in derselben Beziehung zu Syrien stand wie Elsass-Lothringen zu Frankreich. In einem zeitgenössischen Bericht in einer Zeitung hieß es:
'Izzat Darwaza sprach über Palästina und [die Notwendigkeit] syrische[r] Einheit, dann schlug er eine Erklärung der allgemeinen Meinung vor. Niemand widersprach ihm. Die Diskussion zu diesem Thema ging weiter; einige Teilnehmer wollten Palästina nicht erwähnen, sondern den Ausdruck Großsyrien für die gesamte Region von Syrien verwenden; sie erhielten dafür Applaus.
Der Kongress verabschiedete vier Beschlüsse. Der erste davon hielt fest, dass "es den Völkern des nördlichen Syriens und der syrischen Küstenregion niemals in den Sinn kam, dass Südsyrien (oder Palästina) etwas anderes als ein Teil Syriens ist". Der zweite rief zu einem Wirtschaftsboykott der Zionisten in "allen drei Teilen Syriens" (was das gesamte Großsyrien hieß) auf. Der dritte und vierte Beschluss forderte, dass Palästina "nicht von Syrien getrennt wird" sowie "die Unabhängigkeit Syriens innerhalb seiner natürlichen Grenzen".
Die Schlagzeile der Times of London berichtete zur Konferenz von San Remo, die die Einheit Palästina schuf: "Zionisten jubeln. Britisches Mandat für Palästina begrüßt"; 26. April 1920 |
Die Krönung Faysals zum König von Syrien im März 1920 löste starke pansyrische Reaktionen bei den Arabern Palästinas aus. Die britische Militärregierung Palästinas erhielt eine Petition (die auch Amin al-Husseinis Unterschrift trug), die die Beseitigung der Grenzen zu Syrien und die Einbeziehung Palästinas in die Syrische Union forderte. Musa Kazim al-Husseini brach sein Versprechen keine Politik zu betreiben und hielt vom Balkon der Stadtverwaltung eine Lobrede auf Faysal. 'Arifal-'Arif führte in Jerusalem eine Massendemonstration an, auf der die Teilnehmer Bilder von Faysal trugen und Einheit mit Syrien forderten.
Dann kam im April die ernüchternde Nachricht aus San Remo, dass die Regierungen von Großbritannien und Frankreich entschieden hatten Palästina von Syrien abzutrennen und beide Territorien unter ihrer Kontrolle zu behalten. Dies führte zu Protesten aus allen Teilen Palästinas. Es ergingen neue Aufrufe zur Unabhängigkeit eines Syriens, dass ich von der Türkei bis zum Sinai erstreckte.
Diese und viele weitere Anhaltspunkte deuten auf zwei unbestreitbare Fakten hin: Bis zum Juli 1920 bestand das Ziel der Palästinenser darin sich einer Union mit Syrien anzuschließen, während Bestrebungen für einen unabhängigen Palästinenserstaat kaum existierten. Die Dinge änderten sich in den nächsten Monaten allerdings schnell.
Ende 1920: Das Aufkommen des palästinensischen Nationalismus
Die Franzosen eroberten Damaskus und beseitigten im Juli 1920 das von Faysal regierte arabische Königreich. Ein Ergebnis davon war, dass Syrer dazu übergingen fast all ihre Aufmerksamkeit dem Thema der französischen Herrschaft widmeten, was sehr wenig Zeit oder Interesse für Palästina ließ. Warum Damaskus angeschlossen sein, empfanden die Palästinenser, wenn es bedeutete von Paris regiert zu werden? Palästinenserführer kamen zu der Erkenntnis, dass sie gegen die Briten und Zionisten auf sich selbst gestellt waren. Von diesem Punkt an strebten sie danach in Palästina eine autonome arabische Regierung zu etablieren, die von ihnen selbst regiert würde, nicht von Politikern in Damaskus. Hier lagen die Ursprünge des palästinensischen Nationalismus.
Diese Umorientierung wurde mit den Dritten Palästinenserkongress, der im Dezember 1920 stattfand, formell gemacht. Die Delegierten des Kongresses beschlossen die Bezeichnung Südsyrien fallen zu lassen und nicht weiter den Anschluss Palästinas an Syrien zu fordern. In diesem Moment wurde Palästina für Muslime akzeptabel; und es sollte nicht mehr lange dauern, bis sie es tatsächlich reizvoll fanden.
Folgetreffen bestätigten diese neue Identität. Als der Syrische Kongress (die wichtigste Exil-Organisation, die sich dem Aufbau Großsyriens verschrieben hatte) im August 1921 zusammentrat, sollten Palästinenser nicht länger die Einheit Großsyriens befürworten. Sie nötigten die Organisation sogar sich in Syro-Palästinensischer Kongress umzubenennen und eine Erklärung auszugeben, die die "Unabhängigkeit Syriens und Palästinas" zu forderte. Ein Jahr später zogen sich die Palästinenser aus diesem Kongress zurück.
Dieser schnelle Wechsel legt nahe, dass trotz der offensichtlichen Stabilität palästinensischer Interessen zusammen mit Syrien die Stimmung immer labil war. Zum großen Teil hat das damit zu tun, dass beiden Seite, Syrer und Palästinenser, unterschiedliche Erwartungen hatten. Prinz Faysal, der zusammen mit vielen Syrern 1918 bis 1920 die Zionisten als weniger drängende Gefahr betrachtete als die Maroniten im Libanon, war bereit mit den Juden zusammenzuarbeiten, wenn diese ihm helfen konnten sein großsyrisches Ziel zu erreichen. Im Januar 1919 zum Beispiel erzielte er ein Abkommen mit den Zionisten. Im Gegenzug für Faysals Versprechen "die Einwanderung von Juden nach Palästina in großem Umfang zu fördern" gewann er die zionistische Unterstützung für seine Kampagne gegen die Franzosen. (Allerdings hing dieses Abkommen davon ab, dass die Briten Frankreich aus Syrien heraushielten; und da dies nicht gemacht wurde, trat die Vereinbarung nicht in Kraft.) Bald darauf vermerkte Faysal in einem Brief an Felix Frankfurter, dass "es in Syrien keinen Platz für uns beide gibt".
Dementgegen betrachteten Palästinenserführer Zionisten als das überragende Problem. In ihren Augen hing Faysals Ansehen fast ausschließlich von seiner Fähigkeit ab ihnen gegen die Zionisten zu helfen. Ende 1918 betrachteten die Palästinenser Faysal (wie es ein französischer Diplomat ausdrückte) als den einzigen arabischen Führer, "der in der Lage war der jüdischen Flut nach Palästina Widerstand zu leisten". Faysals spätere Bereitschaft mit den Zionisten zu verhandeln verminderte seine Unterstützung durch die Palästinenser.
Das Auseinanderklaffen der Anschauungen schuf von dem Moment an, an dem der Erste Weltkrieg im November 1918 endete, Spannungen zwischen syrischen und palästinensischen Führern. Zeichen der Entfremdung waren innerhalb von drei Monaten nach der Ankunft Faysals in Damaskus offensichtlich und nahmen mit der Zeit weiter zu. Bereits 1919 kam die Muslimisch-Christliche Gesellschaft zu dem Schluss, das Palästina "Teil von Südsyrien sein sollte, vorausgesetzt Letzteres steht nicht unter ausländischer Kontrolle". Der Jerusalemer Ableger der Gesellschaft ging weiter; er forderte eine unabhängige Regierung in Palästina, die mit Syrien lediglich "politisch verbunden" sein sollte. Sie autorisierte Faysal "Palästina zu repräsentieren und auf der Pariser Konferenz zu verteidigen", wobei das so verstanden wurde, dass Palästina innerhalb einer Union mit Syrien volle Autonomie genießen sollte. Und während 'Arif Pascha ad-Dajjani, der Vorsitzende der Muslimisch-Christlichen Gesellschaft, darauf bestand, dass "Palästina oder Südsyrien – integraler Bestandteil des einen und unteilbaren Syrien – auf keinen Fall und unter keinem Vorwand getrennt werden dürfen", hatte er auch Zweifel an der Regierung aus Damaskus.
Fairerweise muss festgehalten werden, dass in der Presse bereits 1919 Argumente gegen die Verbindung zu Damaskus auftauchten. Der Arabische Club war die erste nationalistisch Institution, die auf Faysals Führung verzichtete. Trotz ihres Namens führte die Zeitung Suriya al-Janbiya ("Südsyrien") eine Kampagne weg vom Pan-Syrertum; sie argumentierte, dass die Syrer zu sehr von ihrem Konflikt mit Frankreich in Anspruch genommen waren, um der zionistischen Herausforderung genug Aufmerksamkeit zu widmen. Im Januar 1920, als Faysal mit leeren Händen von seiner zweiten Reise nach Europa zurückkam, begannen einige der Top-Palästinenser ihn als für ihre Sache nicht mehr erforderlich zu betrachten, ein Eindruck, der durch das Fehlen einer syrischen Reaktion auf die Jerusalemer Krawalle im April 1920 verstärkt wurde.
Doch diese Spannungen waren nur von begrenzter Bedeutung. Syrische und palästinensische Führer bagatellisierten ihre Differenzen bis Juli 1920, denn beide hatten ein Interesse daran, dass Prinz Fayal Erfolg hatte.
Was ist für den extrem schnellen Zusammenbruch des pansyrischen Gedankens in Palästina verantwortlich? Yehoshua Porath, der führende Historiker des palästinensischen Nationalismus, argumentierte 1974 in seinem Buch The Emergence oft he Palestinian-Arab National Movement, 1918-1929[i], dass die Palästinenser den Pan-Syrianismus nur so lange unterstützten, wie er ihnen dienlich war, ihn dann aber aufgaben, als er nicht länger nützlich war. Im Gegensatz zu den Syrern, die dazu tendierten den Pan-Syrianismus als Selbstzweck zu betrachten, sagt er, die Palästinenser betrachteten ihn als Mittel, als Waffe im Kampf gegen den Zionismus: Er war schwach, weil er nur versteckten Zwecken diente. In den Jahren 1918 bis 1920 hatte es Vorteile als Teil Syriens behandelt zu werden. Eine gemeinsame anglo-französische Erklärung vom November 1918 versprach "zur Gründung einheimischer Regierungen und Verwaltungen in Syrien und Mesopotamien zu ermutigen und dabei zu helfen" – nicht in Palästina. Diese Erklärung machte es für Palästina wünschenswert als Teil von Syrien betrachtet zu werden. Außerdem bot die Verbindung mit der zahlreicheren muslimischen Bevölkerung von Großsyrien einen Weg die jüdischen Immigranten demografisch zu überwältigen. Und ein Bündnis mit Faysal gab den Palästinensern einen relativ machtvollen Schützer.
Nach Angaben von Porath sorgte die französische Eroberung von Damaskus dafür, dass diese Vorteile verschwanden:
Enttäuschung wegen der Moderatheit der Syrer gegenüber dem Zionismus ließ den Enthusiasmus der Palästinenser für die Idee der pansyrischen Einheit abkühlen ... Die Orientierung hin zu Damaskus war weniger auf dem zunehmenden Nationalismus in diesem Bereich (d.h. Großsyrien) gegründet, als auf einer gegebenen politischen Lage. Als diese Lage sich änderte, kollabierte das Fundament der pansyrischen Bewegung.
All diese Punkte sind korrekt, nicht jedoch die Folgerung, dass der pansyrische Nationalismus nur eine Taktik war, während der palästinensische Nationalismus tief sitzende Gefühle bewirkte. Umgekehrt kommt es der Wahrheit näher. Bestehende Gefühle passten besser zu Großsyrien als zu Palästina. Die Palästinenser gaben den Pan-Syrianismus auf und ersetzten ihn aus taktischen Gründen durch palästinensischen Separatismus, nicht aus innigen Empfindungen. Porath selbst zitiert einen Palästinenserführer, der das offen zugibt. Nur Tage nach dem Sturz von Faysals Regierung erklärte Musa Kazim al-Husseini: "Nach den jüngsten Ereignissen in Damaskus müssen wir einen komplette Wandel für unsere Pläne hier bewirken. Es gibt kein Südsyrien mehr. Wir müssen Palästina verteidigen." Kamil ad-Dajjani erklärte viele Jahre nach dem Vorfall: "Der Zusammenbruch von Faysals Herrschaft in Syrien und die Enttäuschung der Hoffnungen, die an diese Herrschaft geknüpft waren, ließen die Palästinenser das Gefühl haben, dass die Orientierung hin zu Großsyrien keine Frucht trugen." Palästinensischer Nationalismus entstand nicht aus spontanen Gefühlen, sondern war kalkulierte Politik und es verging eine lange Zeit, bevor die emotionale Wirkung dieser überlegt gestalteten und neuen Treue der des pansyrischen Nationalismus entsprach.
Kurz gesagt: Das palästinensische Konzept bot mehr als das eines Großsyrien. Es erlaubte den arabischen Führern Palästinas dieselbe politische Sprache zu sprechen wie der Zionismus und die Briten. Statt sich auf ein eine befindliche Quelle einer Obrigkeit von außerhalb zu beziehen, konnten sie Souveränität für sich selbst beanspruchen. In diesem Prozess entwickelten sie sich von Würdenträgern der Provinz zu unabhängigen Akteuren. Damit bewirkten taktische Überlegungen das rapide Aufkommen des palästinensischen Nationalismus.
Letztlich hat der palästinensische Nationalismus seine Wurzeln im Zionismus; ohne die Existenz eines weiteren Volks, das das britische Palästina als seine nationale Heimstatt betrachtet, hätten die Araber dieses Gebiet weiter als Provinz Südsyriens betrachtet. Der Zionismus machte Palästina zu etwas an sich Wertvollem; ohne die jüdischen Ansprüche hätte die Haltung der sunnitischen Araber Palästina gegenüber zweifelsohne der gegenüber dem Territorium Transjordaniens geähnelt – eine Gleichgültigkeit, die erst von vielen Jahren Regierungsaufwand langsam erodierte. Der palästinensische Nationalismus versprach den direktesten Weg zum Umgang mit der Herausforderung, die die zionistischen Siedler darstellten - eine Herausforderung, die in der Eastbank nie direkt zu greifen war.
Amin al-Husseini
Der Mufti von Jerusalem, Al-Haddsch Mohammed Amin al-Husseini (1895 – 1974). |
Die Karriere des al-Hadsch Mohammed Amin al-Husseini (1895 – 1974), langjähriger Mufti von Jerusalem, demonstriert den dramatischen Wechsel vom pansyrischen zum palästinensischen Nationalismus.
Husseini begann als Parteigänger Großsyriens. Er schrieb gefühlvoll über die Verbundenheit zwischen Syrern und Palästinensern während des Ersten Weltkriegs. Als die Haschemiten die arabische Revolte begannen, die die vier Jahrhunderte andauernde Kontrolle des osmanischen Reichs über die Levante brach, betrachtete Husseini dies als einen effektiveren Weg die Zionisten abzublocken. So schreibt Philip Mattar, ein Biograf des Mufti: "Da es für die Araber vergeblich schien sich gegen die britische Herrschaft zu stellen, glaubte Amin, der einzig praktikable Ansatz sei zu versuchen die britische Balfour-Politik zu ändern, indem man die Unterstützung der Massen für eine Wiedervereinigung von Syrien und Palästina organisiert, was beide dann gegen den Zionismus tätig sein lassen würde."
Husseini desertierte daher aus der osmanischen Armee und schloss sich den Haschemiten an. Er wurde dann ein führender Agent der Haschemiten (eine ironische Entwicklung angesichts seiner späteren tödlichen Feindschaft zu dieser Familie), rekrutierte 1918 rund 2.000 militärische Freiwillige und arbeitete 1919 aktiv zugunsten von Faysal. Auf dem palästinensischen Kongress im Januar/Februar 1919 forderte Husseini die Einheit von Palästina und Syrien. Ein diplomatischer Bericht der Briten vermerkte, dass Husseinis Aktivitäten "zugunsten der Union mit dem Scharifianischen [sprich: Faysals] Syrien" ausgerichtet waren.
Husseini diente als Präsident des Arabischen Vereins der sich besonders eifrig für die Union mit Syrien einsetzte. Gegen Ende 1919 schickte diese Gruppe einen Brief an den britischen Militärgouverneur von Jerusalem, in dem sie erklärte: "Südsyrien bildet einen Teil des vereinten Syrien von Taurus bis nach Rafa, dessen Abtrennung wir unter keinen Umständen tolerieren. Und wir sind sehr gut vorbereitet uns mit all unserer Kraft zu seiner Verteidigung zu opfern."
Als er am 1. April 1920 aus Damaskus zurückkehrte, führte Husseini ein neues Element in eine bereits angespannte Atmosphäre in Palästina ein; er berichtete (fälschlich), die britische Regierung sei bereit Faysal als Herrscher sowohl Syriens als auch Palästinas anzuerkennen. Dieser Bericht steigerte die pansyrischen Erwartungen zu einem Fieberanfall. Dann kamen am 4. April die Nabi-Musa-Krawalle in Jerusalem, bei denen arabische Mobs Juden angriffen; nach Angaben von Horace B. Samuel (und der britische Polizeibericht untermauert diese Schilderung) wurden diese Unruhen von zwei jungen Männern initiiert, die "Lang lebe unser König – König Faysal!" schrien. Der Historiker Taysir Jbara glaubt, dass Amin al-Husseini einer dieser beiden war. Die Polizei suchte Husseini, aber der floh nach Damaskus, wo er wieder daran arbeitete den Einfluss von König Faysal auszubreiten. Obwohl ein Gericht in Palästina Husseini in Abwesenheit zu zehn Jahren Gefängnis verurteilte, begnadigte ihn Sir Herbert Samuel, der Hochkommissar von Palästina, nicht einmal fünf Monate nach den Unruhen. Das erlaubte Husseini sich nach dem Fall von Damaskus wieder nach Palästina zu begeben.
Faysals Niederlage sorgte dafür, dass Husseini, wie andere Führer, ihre Ideologie von einem Moment auf den anderen änderte, was ihn zu einem unbeugsamen palästinensischen Nationalisten machte. Er wurde 1921 Mufti von Jerusalem, 1922 Vorsitzender des Obersten Muslimrats und 1936 Präsident des Arabischen Hohen Rats. Jeder dieser Posten gab ihm mehr Macht; gegen Mitte der 1930-er Jahre war er zum herausragenden politischen Führer Palästinas geworden, Symbol und Bollwerk des palästinensischen Nationalismus.
Schlussfolgerung
1920 gab es vier wichtige Ereignisse. Im März wurde Faysal zum König von Syrien gekrönt, was die Erwartungen steigerte, dass Palästina sich seinem unabhängigen Staat anschließen würde. Im April setzten die Briten Palästina auf die Landkarte, was diese Hoffnungen zunichte machte. Im Juli eroberten französische Streitkräfte Damaskus, was die palästinensische Verbindung mit Syrien beendete. Und im Dezember übernahm die Palästinenserführung als Reaktion auf diese Ereignisse das Ziel eines unabhängigen palästinensischen Staats. xxx
Da der palästinensische Nationalismus aus politischem Kalkül entstand, nicht aus spontanen Gefühlen, musste er viele Jahre abwarten, bevor er wirklich Kraft gewann. Doch was dem palästinensischen Nationalismus an natürlichem Ursprung fehlte, machte er rasch mit leidenschaftlicher Identifikation wett. Wie konnte ein geplantes und neues Zugehörigkeitsgefühl es schaffen eine derart starke emotionale Anziehungskraft auszuüben? Die Logik der Notwendigkeit sorgte dafür, dass der palästinensische Nationalismus aufblühte und so wurde er zu einer Sache des Volkes.
Das Larousse-Wörterbuch zeigt 1939 eine komplett jüdische Flagge Palästinas. Es brauchte eine Weile, bis die Araber sich mit diesem geografischen Begriff anfreundeten. |
Er ist in der aktuellen Szene derart dominant geworden, dass seine junge und utilitaristische Herkunft bis auf eine Hand voll Wissenschaftler von allen vergessen worden ist. Um alles noch schlimmer zu machen, scheint eine informelle Kampagne im Gang zu sein, die die Tatsache unterdrückt, dass zwei entscheidende Jahre lang Pan-Syrianismus vorherrschte. Eine Anzahl solider recherchierter akademischer Bücher der letzten Jahre schieben dieses gesamte Phänomen in dem Bemühen beiseite rückwirkend die Gestalt des palästinensischen Nationalismus dieser Jahre aufzuwerten.
Dieses Umschreiben der Geschichte dient der Betonung der beständigen Bedeutung des Jahres 1920. Ein Überblick über die Ereignisse dieses Jahres zeigt erst einmal die Tatsache auf, dass der palästinensische Nationalismus nur eine Variante des Antizionismus ist; andere wiederum haben immer ein Konkurrenzproblem gehabt. Yassir Arafat und seine Anhänger können nie in Frieden ruhen, weil sie immer nicht nur mit ihrem israelischen Feind kämpfen mussten, sondern auch mit ihren arabischen Rivalen (von denen viele immer noch in Damaskus sitzen).
Zweitens demonstriert 1920 den extremen Wankelmut der Loyalität der arabischen Nationalisten. Da sie nur oberflächlich eine nationalistische Grundlage haben, fanden sie es leicht von einer Formulierung zu einer anderen überzuwechseln. Palästinenserführer unterstützten Großsyrien, solange es ihren Zwecken diente; dann änderten sich nach der französischen Eroberung von Damaskus die Voraussetzungen und die Führung übernahm nahtlos einen neuen Ansatz. Während der 1950-er Jahre, als sich Gamal Abdel Nasser und der arabische Nationalismus ihre Hoch-Zeit hatten, zogen viele Palästinenserführer in dieses Lager um. Das könnte wieder geschehen. Wo die Umstände zu einem weiteren Wechsel auffordern, einer Föderation mit Jordanien, könnten viele dieser Palästinenser, die heute so leidenschaftlich einen unabhängigen Palästinenserstaat befürworten, dies als neues angestrebtes Ziel übernehmen.
Es stimmt zwar, dass die Flexibilität von 1920 sich in einem Augenblick besonderer Fluidität abspielte und die Standpunkte sich seit damals verhärtet haben, aber der Nahe Osten bleibt die politisch sprunghafteste Region der Welt. Wichtige Neuordnungen finden fast vorhersagbar statt, etwa einmal pro Jahrzehnt. Wenn man bedenkt, dass es unwahrscheinlich ist, dass die heutige Konstellation der Kräfte bis in die ferne Zukunft bestehen bleibt und ein unabhängiger Palästinenserstaat bevorsteht, könnte die Vorrangstellung des palästinensischen Nationalismus irgendwann enden, vielleicht so schnell, wie er entstand.
Update vom 13.September 2000: Eingedenk der vermeintlichen Ausrufung eines Palästinenserstaats habe ich heute eine Zusammenfassung dieses Artikels veröffentlicht.
Update vom 30 März 2009: Um ein Gefühl für die christlichen und jüdischen Standpunkte von 1920 zu bekommen, beachten Sie bitte die Begeisterung bei General Edmund Allenbys Eroberung von Jerusalem am 9. Dezember 1917, wie sie in "Jerusalem Falls to British' Great Rejoicing in the Christian World'" dokumentiert ist.
[i] Die Entstehung der palästinensisch-arabischen Nationalbewegung, 1918 - 1929