Die Ermordung des russischen Botschafters Andrej Karlow in der Türkei am 19. Dezember in Ankara wirft einige wichtige geopolitische Fragen auf: Wird diese Gewalttat die Beziehungen zwischen den beiden Ländern abbrechen lassen, die Türkei isolieren oder – entgegen der Absicht des Anschlags – die Beziehungen verbessern? Und wird dieser Mord den Nahen Osten und die Welt darüber hinaus beeinflussen?
Türken und Russen haben eine lange und komplexe Geschichte, die mit der osmanischen Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 und dem russischen Traum es für die orthodoxe Christenheit zurückzugewinnen beginnt. Die beiden Staaten fochten in den dreieinhalb Jahrhunderten von 1568 bis 1918 zwölf große Kriege aus, hatten eine Böe guter Beziehungen unter Atatürk und Lenin, die dann mit Stalin den Bach hinuntergingen, sich 1991 bei der Auflösung der Sowjetunion beträchtlich verbesserten, und schließlich (2015) abstürzten und sich (2016) wieder erholten.
Eine Darstellung der Belagerung Konstantinopels 1453. |
Allgemein haben die Russen die Oberhand behalten. Sie gewannen die meisten Kriege, besetzten das meiste Land und kamen mit besseren Konditionen aus Verträgen heraus. Die Türken erkannten lange ihren Bedarf an westlicher Hilfe um Russland abzuwehren: Damit gewannen sie Mitte des 19. Jahrhunderts die Unterstützung einer Viermächte-Koalition, der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg und der Organisation des Nordatlantikvertrags (NATO) während und nach dem Kalten Krieg.
Angst vor Moskau hat die Türken auch auf tiefere Weise beeinflusst, sich stetig in Richtung westlicher Gepflogenheiten neigen lassen; von allen Muslimen sind die Türken am offensten für westlichen Einfluss, vom Trinken von Wein bis zum Aufbau der Demokratie. Nicht zufällig sticht ein Türke, Kemal Atatürk, als einflussreichster muslimischer Verwestlicher heraus.
Recep Tayyip Erdoğan mag die NATO nicht mögen, aber er braucht sie. |
Dieses Jahrhunderte alte Muster blieb meist vorhanden, bis der diktatorsch-islamistische Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan, im November 2015 beschloss einen russischen Kampfjet wegen angeblicher Verletzung des türkischen Luftraums abzuschießen. Was immer sein Grund war – vielleicht Vergeltung für einen vergleichbaren Abschuss eines türkischen Flugzeugs durch syrische Kräfte 2012 – diese unberechenbare Tat machte Russlands Präsidenten Wladimir Putin wütend und entfremdete NATO-Führungskräfte. In Schulhofsprache übersetzt: Der kleine Rabauke verschätzte sich beim großen Rabauken.
Erdoğan erkannte seinen Fehler schließlich und im Juni 2016 schluckte er seinen angeschwollenen Stolz herunter, entschuldigte sich bei Putin, besuchte ihn demütig in Russland und machte teilweise Rückzieher bei der Putins Politik widersprechenden türkischen Politik in Syrien. Ohne Zuneigung oder Vertrauen für Erdoğan zu preiszugeben, nahm der russische Führer diese Zugeständnisse auf und setzte seine Kooperation mit ihm fort.
Dann kam am vergangenen Montag die Ermordung des russischen Botschafters ausgerechnet bei einer Kunstausstellung, was durch eine hoch auflösende Videoaufzeichnung der Gewalttat noch entsetzlicher und lebendiger gemacht wird. Der Mörder Mevlüt Mert Altıntaş (22) brachte seine Anschauung und den Zweck der Tat zum Ausdruck, indem er vor seinem eigenen Tod durch Schusswaffeneinsatz schrie: "Wir sind die, die dem Ruf des Jihad gehorchen! Allahu Akbar! Vergesst Aleppo nicht! Vergesst Syrien nicht!" Nimmt man an, jemand, der Parolen brüllt, während er mordet und getötet wird, die Wahrheit sagt, war Altıntaş ein sunnitischer Jihadist, der gegen die russische Militärhilfe in Syrien zur Hilfe für die Feinde, andere sunnitischer Jihadisten, losschlägt.
Die Ermordung von Botschafter Karlow war um so heftiger, weil sie vor einer Kamera stattfand. |
Wie es ihre Gewohnheit ist, hatten die türkischen Behörden es eilig Altıntaş als Agenten eines tödlichen innenpolitischen Feindes zu verkünden, der Hizmet-Bewegung von Fethullah Gülen. Einst enge Verbündete, verfielen Gülen und Erdoğan 2011 in einen mörderischen Streit um die Macht. Seitdem hat Erdoğan versucht Gülen und seine Millionen Anhänger zu erdrücken, indem er sie für jedes Problem verantwortlich macht. Altıntaş Gülen anzuhängen passt in dieses abgegriffene Narrativ und signalisiert zudem Moskau, dass die Republik Türkei den Mörder als ihren gemeinsamen Feind betrachtet. Putin reagierte auf gleiche Weise, indem er den Mord "Terrorismus" zuschrieb und nicht Erdoğans Team dafür verantwortlich machte.
Allerdings brachte Altıntaş' Gewalttat, in ironischem Gegensatz zu seinen angenommenen Wünschen, die zwei Machthaber enger zusammen; eine Analyse in der Chicago Tribune stellt fest, dass "Russland politischen Nutzen erlangt, indem argumentiert wird, dass es einen hohen Preis für die Bekämpfung des Terrorismus bezahlte, weil die Türkei, von ihren Sicherheitslücken in Verlegenheit gebracht, im benachbarten Syrien zunehmend mit Russland kooperiert".
Abgesehen davon stecken die Beziehungen der beiden Staaten weiter voller Spannungen: Historische Feinde behalten Groll im Gedächtnis. Rabauken können keine stabile Beziehung zueinander bilden. Gegner in Syriens Bürgerkrieg können bei einander widersprechenden Zielen nicht ruhig bleiben. Strukturell braucht Ankara die NATO; deshalb scheint Gerede über ihren Beitritt zur Shanghai-Kooperationsorganisation, dem russisch-chinesischen Gegenstück zur NATO, Geschwätz zu sein, mit dem Westler unter Druck gesetzt werden sollen.
Karlows Ermordung stellt heraus, wie die Türkei, dieses Land mit 75 Millionen Einwohnern, das sich zunehmend selbst isoliert und schurkisch wird, zu einer führenden Quelle der Instabilität wird. Erdoğans Türkei ist zwar immer noch Mitglied der NATO, aber sie konkurriert mit dem khomeinistischen Iran um den Titel der gefährlichsten Regimes im Nahen Osten.