Die Bilder aus dem Abu Ghraib-Gefängnis im Irak trafen in der muslimischen Welt einen Nerv; ein Analyst sagte, die Vergewaltigungsbilder "kämen einer Atomexplosion gleich", wenn sie in muslimischen Ländern gesehen werden. Solch extreme Reaktionen werfen die delikate Frage nach dem Sex in den Beziehungen zwischen Muslimen und Westlern auf.
Der Westen und die muslimische Welt unterhalten enorm unterschiedliche Annahmen zur weiblichen Sexualität. (Ich beziehe mich hier auf die Gedanken Fatima Mernissis in ihrem Buch "Beyond the Veil: Male-Female Dynamics in a Modern Society" [Hinter dem Schleier: Die Mann-Frau-Dynamik in einer modernen muslimischen Gesellschaft] von 1975.] Im Westen wurde bis vor Kurzem angenommen, dass Männer und Frauen den Eros unterschiedlich erfahren, wobei die Männer aktiv die Jagd, Verführung und Penetration übernehmen und Frauen passiv die Erfahrung erleiden. Erst sehr spät gewann die Vorstellung Gültigkeit, dass Frauen auch sexuelle Wünsche haben.
In Anbetracht der muslimischen Reputation für archaische Bräuche ist es schon Ironie anzuführen, dass die islamische Zivilisation nicht nur Frauen als sexuell verlangend darstellt; sie betrachtet sie gar als leidenschaftlicher als die Männer. In der Tat hat dieses Verständnis den traditionellen Platz der Frau in der muslimischen Welt bestimmt.
In der islamischen Sichtweise verlangen Männer und Frauen nach Verkehr, bei dem ihre Körper ähnliche Prozesse durchlaufen, was ähnliches Vergnügen verschafft. Wenn Westler den sexuellen Akt traditionell als Kampfplatz betrachteten, wo der Mann seine Überlegenheit über die Frau ausübt, betrachteten Muslime ihn als zärtliches und geteiltes Vergnügen.
Muslime glauben im Allgemeinen, dass das weibliche Verlangen so viel größer ist als beim männlichen Gegenüber, dass die Frau als der Jäger und der Mann als passives Opfer betrachtet wird. Zwar machen Gläubige sich wenig Sorge um den sexuellen Akt an sich, aber sie sind besessen von den Gefahren, die die Frauen darstellen. Ihre Bedürfnisse sollen so stark sein, dass sie darin endet, die Kräfte der Unvernunft und Unordnung zu repräsentieren. Das ungezügelte Verlangen und die unwiderstehliche Attraktivität der Frauen gibt diesen eine Macht über den Mann, die selbst die Macht Gottes herausfordert. Sie muss in Grenzen gehalten werden, denn ihre hemmungslose Sexualität stellt eine direkte Gefahr für die soziale Ordnung dar. (Symbolisch dafür bedeutet das arabische Wort "fitna" sowohl "öffentliche Unruhe" als auch "schöne Frau".)
Die gesamte muslimische Sozialstruktur kann als Eingrenzung der weiblichen Sexualität verstanden werden. Strukturell wird alles unternommen, um die Geschlechter zu trennen und die Kontakte zwischen ihnen zu verringern. Das erklärt Bräuche wie die Bedeckung des Gesichts der Frau und die Abtrennung der Frauen-Wohnräume oder Harem. Viele andere Einrichtungen dienen dazu, die weibliche Macht über den Mann zu reduzieren, so die von der Frau benötigte Erlaubnis eines, damit die Frau reisen, arbeiten, heiraten oder sich scheiden lassen darf. Aufschlussreich ist, dass eine traditionelle muslimische Hochzeit mit zwei Männern stattfand: dem Bräutigam und dem Wächter der Frau.
Selbst verheiratete Paare sollten nicht allzu verbunden sein; um sicherzustellen, dass ein Mann nicht derart von Verlangen nach seiner Frau eingenommen wird, dass er seine Pflichten gegenüber Gott vernachlässigt, beschränkt das muslimische Familienleben den Kontakt zwischen den Ehepartnern, indem es ihre Interessen und Pflichten teilt, wodurch die Machtverhältnisse unausgewogen sind (sie ist eher seine Dienerin als seine Gefährtin) und dazu ermuntert, die Verbundenheit von Mutter und Sohn über die der ehelichen Verbindung zu stellen.
Insgesamt haben die Muslime sich in der Vormoderne an diese islamischen Ideale für die Beziehung zwischen Männern und Frauen gehalten. Es bleibt aber die Befürchtung bestehen, dass die Frauen aus ihren Beschränkungen ausbrechen und die Gemeinschaft ins Verderben stürzen.
Diese Befürchtungen vervielfältigten sich in den vergangenen Jahrhunderten, als westlicher Einfluss sich in der muslimischen Welt verbreitete, denn westliche Verhaltensweisen kollidieren fast immer mit denen des Islam. Sie sind durch die verbesserten Rechte und Freiheiten getrennt, die die Frauen durch juristische Gleichstellung, Monogamie, romantische Liebe, offene Sexualität und eine unübersehbare Menge anderer Gewohnheiten gewonnen haben. Das hat zum Ergebnis, dass jede Zivilisation auf die andere als überaus fehlerhaft, sogar barbarisch herab blickt. Für viele Muslime stellt der Westen nicht nur eine äußere Bedrohung als ungläubiger Eindringling dar; er erodiert auch die traditionellen Mechanismen im Umgang mit der internen Bedrohung, der Frau. Das führt zu der weit verbreiteten Besorgnis, dass westliche Verhaltensweisen übernommen werden und den Vorzug vor dem Festhalten an älteren Gewohnheiten bekommen. Mit anderen Worten: Die Unterschiede in der Sexualität tragen zu einem allgemeinen muslimischen Widerwillen gegen die Akzeptierung der Moderne bei. Die Angst vor westlicher Erotik endet darin die muslimischen Menschen in politische, wirtschaftliche und kulturelle Kampfplätze einzuengen. Sexuelle Befürchtungen bilden einen Schlüsselgrund für das Trauma des Islam in der Moderne.
Und das erklärt die extreme Empfindlichkeit gegenüber solch unterschiedlichen Fragen wie der, ob Mädchen in französischen Schulen ein Kopftuch tragen sollen, der "Ehrenmorde" in Jordanien, Auto fahrender Frauen in Saudi Arabien und eben die Bilder aus dem Abu Ghraib-Gefängnis im Irak.