Einleitung: Es ist das erste Mal seit 2000, dass ich mit keinem einzigen anderen Analysten zu einer Entwicklung im Nahen Osten übereinstimme. Damals sagte allein ich voraus, dass Hafez al-Assad aus Syrien keine diplomatische Einigung mit Israel erzielen würde. Heute sehe nur ich die Wahlen von Istanbul nicht als den Beginn einer neuen Ära, sondern als vorübergehenden Aussetzer einer alten. Schaun mer mal. - DP
Der Nahe Osten hat zurecht einen Ruf der Unergründlichkeit, in dem scheinbar unlogisches Handeln Teil des Tagesgeschäfts ist. Der saudische Kronprinz entführte den aus dem Libanon zu Besuch gekommenen Premierminister, zwang ihn zum Rücktritt, nur um zu erleben, wie er bei seiner Rückkehr nach Hause auf seinen Posten zurückkehrte. Die palästinensische Autonomiebehörde lehnte es wütend ab an einer Konferenz in Bahrain teilzunehmen, wo sie bis zu $27 Milliarden einstreichen könnte. Und dann sind da die erneuten Wahlen zum Istanbuler Bürgermeister, die am Sonntag stattfanden.
Die ursprünglichen Wahlen fanden im März statt, als Präsident Recep Tayyip Erdoğans Kandidat mit mikroskopisch geringem Vorsprung von 0,16 Prozent gewann. Unzufrieden mit diesem Ergebnis machte Erdoğan, was ein Diktator selbstverständlich macht und befahl sie auf Grundlage einer geringfügigen Formsache zu annullieren, worauf eine Wiederholung folgen sollte. Man könnte sich vorstellen, dass er seinen Gefolgsleuten sagte, sie sollten es beim zweiten Mal richtig machen und sicherzustellen, dass sein Kandidat mit beträchtlichem Vorsprung gewinnt. Stattdessen verlor sein Kandidat mit satten 9,22 Prozent Rückstand, eine fast 60-mal so große Lücke wie bei seiner ersten Niederlage.
Ekrem Imamoğlu, Istanbuls neu gewählter Bürgermeister, sprach nach seinem Wahlsieg zu seinen Anhängern. Aber wie lange wird ihr Überschwang andauern? |
Dieses Drama veranlasst zwei Fragen.
Erstens: Warum erlaubte Erdoğan, dass das geschah? Er hat als beinahe absoluter Diktator rund sechs Jahre lang geherrscht, also wär es für ihn konsequent gewesen einen großen Sieg zu fordern. Er kontrolliert das Militär, die Polizei, das Parlament, die Justiz, die Banken, die Medien und das Bildungssystem. Er macht, was er will. Zum Beispiel:
Er manipuliert Wahlen und annullierte – natürlich – die früheren Wahlen in Istanbul. Er baute Paläste und Flughäfen, wo immer er wollte und zu jeden Kosten, die er wünscht. Er befiehlt der Zentralbank alle Zinsen zu nehmen, die er will. Er betrieb einen "kontrollierten Staatsstreich". Er bohrt nach Belieben in der exklusiven Wirtschaftszone eines Nachbarstaates nach Gas und verletzt dessen Luftraum. Er konspiriert mit ISIS. Er lässt politische Gegner von Schlägern einschüchtern. Er entlässt, inhaftiert oder foltert jeden, der ihm in der Türkei in die Quere kommt, einschließlich Ausländern. Er entführt Türken aus weit entfernten Ländern. Er schafft seine eigene Privatarmee und setzt sie ein.
Die türkische Regierung schickte die Barbaros Hayrettin Paşa, ein seismographisches Forschungs- und Vermessungsschiff, um in der exklusiven Wirtschaftszone Zyperns nach Erdgas zu forschen. |
Angesichts solcher Macht: Warum erlaubte er in Istanbul eine freie Wahl und fälschte die Ergebnisse nicht? Diktatoren lassen ihre Feinde normalerweise nicht die wichtigste Stadt des Landes gewinnen und das um so weniger, als Erdoğan den Kampf um Istanbul als Sache des "nationalen Überlebens" bezeichnete und prophezeite: "Wenn wir in Istanbul straucheln, werden wir unseren Halt in der Türkei verlieren."
Die Kuriosität der Wahl in Istanbul passt in einen größeren Kontext dessen, was ich das "Rätsel Erdoğan" genannt habe. Immer wieder unternimmt der türkische Präsident unlogische und selbstzerstörerische Schritte: Er schuf sich unnötigerweise einen mächtigen Feind, indem er 2013 Fethullah Gülen, seinem langjährigen islamistischen Waffenbruder, den politischen Krieg erklärte. Er verwirkte die visumfreie Einreise für Türken in die Europäische Union, ein sehr wichtiges Ziel; stattdessen zog er einen bedeutungslosen Legalismus vor. Er machte enorme Anstrengungen, für die er einen hohen politischen Preis zahlte, um 2017 eine Volksabstimmung zu gewinnen, mit der die Verfassung geändert wurde, die er Jahre lang ignoriert hatte. Er versenkte 2018 die türkische Währung, will er bizarrerweise glaubt, dass hohe Zinsen zu hoher Inflation führen und zieht daraus den Schluss, dass diese "[hohen] Zinsen die Mutter und der Vater allen Übels sind".
Die Zahl der türkischen Lira, die einen US-Dollar ausmachen, im Verlauf des letzten Jahrzehnts. Das Diagramm verläuft in etwa parallel zur Qualität der Regierungsarbeit von Erdoğan. |
Aber die verschiedenen Erklärungen, die einem zur Erklärung der demütigenden Niederlage einfallen – Erdoğans Wille schwächelt, er hat noch einen Trick auf Lager, er will zur Demokratie zurückkehren – kommen mir allesamt nicht plausibel vor.
Meine zweite Frage lautet: Warum ist niemand angesichts dieser Entwicklung verwundert? Jeder Analyst, den ich las, handelt das Funktionieren der Demokratie in der Türkei als absolut normal ab, wobei ignoriert wird, dass das Land von einem Despoten beherrscht wird. Schlagzeilen berichten von einer "tektonischen Verschiebung", einem "heftigen Schlag" und einem "katastrophalen Verlust", in der Annahme, dass Erdoğan seine Niederlage akzeptieren wird. Für sie beginnt mit der Wahl in Istanbul für die Türkei ein neues Zeitalter.
"Das Volk der Türkei steht hinter mir!" |
Das sehe ich anders. Ich sehe es als Anormalität, die gerichtet werden wird. Entsprechend sage ich voraus, dass Erdoğans tyrannischer Impuls, unerklärlicherweise in Abnahme, bald wieder hochkommen wird. Wenn das geschieht, wird er sich die Kontrolle über Istanbul zurückholen. Er könnte wieder auf eine Formalie zurückgreifen oder er könnte diesmal den Bürgermeister der Verbindung zu Gülen und "Terrorismus" beschuldigen. Was immer der Grund sein wird, der Effekt wird derselbe sein: eine Wiederbehauptung des höchsten Willen des Autokraten über das gesamte Land.
Im Rückblick wird die Wahl in Istanbul als Ausnahme zu Erdoğans Weg zu absoluter Kontrolle gesehen werden. Man wird sich daran nicht als tektonische Verschiebung, heftigen Schlag oder katastrophalen Verlust erinnern, sondern als kleines Intermezzo in der unaufhaltsamen Entfaltung der Zerstörung seines Landes.