Touristen tendieren dazu Stereotype zu Nationalcharakteren zu haben – die Engländer sind Snobs, die Franzosen elegant, die Deutschen ernst und die Italiener fröhlich oder sonstige Varianten dieser Liste. Interessanter ist, dass scharfsinnige Denker zu diesem Thema ebenfalls viel zu sagen haben und manchmal dicke Schinken dazu schreiben. Haben Historiker, Soziologen und Anthropologen in Europa einen Konsens zu dessen Nationalcharakteren gefunden? Was ist mit ihren nächsten Nachbarn im Nahen Osten? Eine Untersuchung ergibt ein komplettes Durcheinander.
Die Engländer, um meine eigene Rezension ausgezeichneter Autoren wie David Hume, Ralph Waldo Emerson und George Orwell zu zitieren, werden gleichzeitig für "gelassen und launenhaft, brüderlich und eingebildet, fair und habgierig, arrogant und respektvoll, scheinheilig und edel, stur und humorvoll" gehalten. Kurz gesagt: Die vereinte Weisheit der "ächzenden Regalbretter aus Büchern und Artikeln zum englischen Nationalcharakter, viele von hervorragenden Persönlichkeiten geschrieben, ... läuft auf einen massiven Widerspruch hinaus."[i]
Wie sehen Briten aus? |
Die Franzosen haben einen Ruf kalter Logik und mathematischer Präzision. Andere bezeichnen sie als eitel, leidenschaftliche Liebhaber und voller joie de vivre. Seltsamerweise findet William McDougall, der mit C.G. Jung studierte und in Harvard lehrte, dass ihre "Geselligkeit und ein verständnisvoller Charakter" Frankreich zentral organisiert sein lässt.[ii] Jenseits solcher Details ging der große Geschichtenschreiber Guy de Maupassant auf – ausgerechnet – den Schnurrbart ein. Diesen befand er als "französisch, total französisch. Es kam von unseren Vorfahren, den Galliern und ist das Abzeichen unseres Nationalcharakters geblieben."[iii] Machen Sie damit, was Sie wollen.
Der typische Deutsche |
Deutsche sind auf viele Weisen beschrieben worden: poetisch, sentimental, voller Ehrfurcht vor der Tradition, moralisch ernsthaft, logisch, reserviert, sorgfältig und pedantisch. 1892 bejubelte ein einflussreicher deutscher Theologe sie als konzentriert auf "das innere Leben von Emotion und Fantasie" und "komplett vertieft" in ihre eigene Existenz.[iv] Nur ein halbes Jahrhundert später bewertete ein englischer Professor für Geschichte des Mittelalters sie als "ein Volk, das immer wie im Krieg ist, immer aggressiv, ein Esau unter den Nationen, ein Einzelgänger unter Elefanten. ... ein Volk, von Fehden ohne Waffenstillstand zerrissen, dem Einheit fehlt ohne jeglichen Sinn für Politisches, süchtig nach gewalttätigem Verbrechen und bodenlosem Verrat."[v] 2022 scheint der Ruf von 1892 erneut passender.
Die Italiener mögen weltweit den Ruf haben ausdrucksstark, emotional und künstlerisch zu sein, aber der größte Historiker für das antike Rom, Theodor Mommsen, verkündete denkwürdig, ob antik, mittelalterlich oder modern, ihnen "fehlt Leidenschaft des Herzens und der Sehnsucht zu idealisieren, was human ist und den Dingen der unbelebten Welt Leben zu verleihen, was das Wesen der poetischen Kunst bildet. ... in den perfekteren Künsten haben sie kaum Fortschritt über die Tüchtigkeit der Ausführung hinaus erlangt und keine Epoche ihrer Literatur hat ein wahres Epos oder ein geniales Theaterstück hervorgebracht."[vi] Im Gegenteil – der schottische Philosoph David Hume sah bei den Italienern enorme Herausforderungen: "Aufrichtigkeit, Mut und Freiheitsliebe formten den Charakter der antiken Römer, so wie Raffinesse, Feigheit und sklavische Gesinnung den modernen formen." Die Griechen beurteilte er ähnlich: "Die Erfindungsgabe, der Fleiß und die Aktivität der antiken Griechen haben nichts gemein mit der Dummheit und der Trägheit der gegenwärtigen Einwohner dieser Regionen."[vii]
Vergleiche zwischen Nationalitäten sind noch willkürlicher. Nehmen Sie die Briten und Franzosen. Der große französische Romanautor Honoré de Balzac verkündete um 1840, dass "der Franzose so frivol ist, ... wie der Engländer edel."[viii] William MacNeile Dixon, Professor für Englisch und Literatur an der University of Glasgow, hielt das britische Denken 1915 für nicht "so leuchtend und logisch" wie das französische.[ix] Morris Ginsburg, ein führender Soziologe, befand die Briten für weniger wortgewandt als die Franzosen.[x] Salvador de Madariaga, ein angesehener spanischer Schriftsteller, entdeckte 1928 die Kernelemente des Nationalcharakters: Fairplay in England und le droit (das Gesetz) in Frankreich, woraus er folgerte, das die Engländer Männer der Tat sind, die Franzosten Männer des Denkens.[xi]
AlMas'udi, Kitah at-Tanbih wa'l-Aschraf, herausggegeben von M.J. de Goeje. Leiden (Brill), 1894 |
Vielleicht können Nahostler uns aus diesem Obstsalat befreien? Sie begannen mit einer entschieden schwachen Meinung und ohne einzelne Nationen zu unterscheiden. In den 940-er Jahren qualifizierte der Geograf al-Mas'udi die "Franken", womit er Westeuropäer meinte, schillernd als Barbaren ab:
Ihr Humor hat wenig Wärme, ihre Körper sind ausgedehnt, ihrer Charaktere sind ausgetrocknet, ihre Moral grob, ihr Begriffsvermögen schwach und ihre Zungen schwer. Ihre Leichenblässe ist so extrem, dass sie bläulich erscheinen. Ihre Haut ist empfindlich, ihr Haar dick. Ihre Augen sind so blau, dass sie zu ihrer Hautfarbe passen. Feuchter Dampf macht ihr Haar strähnig und rötlich-braun. Ihrer Religion fehlt infolge der Natur des Kalten und fehlender Wärme Substanz. Diejenigen, die im fernen Norden leben, sind die dümmsten, nutzlosesten und bestialischsten; und diese Charakteristika nehmen zu, je weiter man in den Norden kommt.[xii]
Dreihundert Jahre später war der Ruf der Franken noch tiefer gesunken. Ibn Sa'id al-Maghribi stellte fest, dass die Franken:
Tieren mehr ähneln als Menschen. ... Die kalte Luft und der bewölkte Himmel [verursachen], dass ihr Temperament einfriert und ihr Humor so vulgär wird; ihre Bäuche sind erweitert, ihre Farbe fahl und ihr Haar zu lang. Ihnen fehlen das Interesse verstehen zu wollen und Scharfsinn, sie werden von Ignoranz und Dummheit beherrscht und Zielblindheit ist weit verbreitet.[xiii]
Nahostler betrachten Europäer immer noch negativ, wenn auch mit mehr Respekt. Der einflussreiche syrische Intellektuelle 'Abd ar-Rahman al-Kawakibi schrieb 1899:
Der westliche Mann ist ein nüchterner Materialist. Er ist hart im Umgang, er neigt von Natur aus dazu andere auszunutzen und ist immer bereit sich an seinen Feinden zu rächen. Er hat die letzte Spur von Gefühl und Barmherzigkeit verloren, die das Christentum ihm verlieh.
Innerhalb Europas unterschied Kawakibi zwischen dem Teutonen (wozu er auch den Anglosachsen zählt), der "von Natur aus zäh ist. Er betrachtet die Schwachen mit Verachtung, als nicht existenzwürdig. Er sieht Macht als die höchste Tugend des Mannes." Im Gegensatz dazu hat der Lateiner "einen launenhaften Charakter. Vernunft heißt für ihn Grenzen zu überschreiten; sein Leben hat wenig Bescheidenheit; Ehre zeigt sich in protziger Kleidung."[xiv]
Eine Vision des Teutonen (links) gegenüber dem Lateiner |
Ein osmanischer Spruch behauptet: "Der Engländer ist religionslos, der Franzose seelenlos, der Ungar glücklos, der Russe pervers, der Deutsche gnadenlos."[xv] Moderne Türken mögen bleiläufig auf "den verschwörerischen Charakter der Griechen" verweisen.[xvi] Der iranische Ökonom Jahangir Amuzegar beschreibt die Franzosen "als nörglerisch, geschwätzig, rational, snobistisch, elitär; die Deutschen als ordentlich, diszipliniert, produktiv; die Briten als kalt, ausgekocht, beherrscht, ehrerbietig; die Russen als freundlich, warm, folgsam, geduldig, emotional."[xvii]
Damit verlassen wir den Nationalcharakter, möglicherwiese verwirrter als zuvor. Bisher haben sich Beschreibungen von Nationalcharakteren als so nutzlos wie widersprüchlich erwiesen. Das lässt jedoch immer noch die unerfüllte Wissenschaft vom Nationalcharakter offen, wie sie der liberale Philosoph John Stuart Mill anregte, der 1872 eine Disziplin suchte, die er "politische Verhaltensforschung oder die Wissenschaft des Nationalcharakters" nannte.[xviii]
Daniel Pipes (DanielPipes.org, @DanielPipes) ist Präsident des Middle East Forum
© 2022 Daniel Pipes – alle Rechte vorbehalten
[i] Daniel Pipes: An American in Search of the English National Character. Critic, 23. Januar 2021.
[ii] William McDougall: The Group Mind: A Sketch of the Principles of Collective Psychology with Some Attempt to Apply Them to the Interpretation of National Life and Character. New York (B.P. Putnman's Sons), 1920, S. 307.
[iii] Guy d eMaupassant: The Mustache. In: The Miromesnil Edition of Guy de Maupassant, Monsieur Parent, Queen Hortense, Fascination, and Other Stories , n.p., P.F. Collier and Son, 1910, S. 4.
[iv] Otto Pfleiderer: The National Traits of the Germans as Seen in Their Religion. International Journal of Ethics 3 (1892‑93), S. 19.
[v] F.J.C. Hearnshaw: Germany the Aggressor Throughout the Ages. London (W&R Chambers, 1940, S.. 271.
[vi] Theodor Mommsen, The History of Rome, (engl. Übersetzung von William Purdie Dickson), Buch 1, S. 291.
[vii] David Hume: Of National Characters. The Philosophical Works, Edinburgh: Black and Tait, 1826, Bd. 3, S. 233.
[viii] Honoré de Balzac: Illusions perdues. Paris, Club français du livre, 1962, Bd. 4, S. 1067.
[ix] W. MacNeile Dixon: Poetry and National Character. Cambridge, Eng. (At the University Press) 1915, S. 38.
[x] M. Ginsberg: National Character. British Journal of Psychology 32,1942, S. 188.
[xi] Salvador de Madariaga: Englishmen, Frenchmen, Spaniards: An Essay in Comparative Psychology. London (Oxford University Press) 1928, S. 1-8. Maradinagas Buch ist vielleicht das am rigidesten strukturierte Essay zu Nationalcharakter un auch das charmanteste.
[xii] Al-Mas'udi: Kitab at-Tanbih wa'l-Ashraf. Hrsg. M.J. de Goeje, Leiden (Brill) 1894), S. 23-24.
[xiii] Ibn Sa'id: Kitab Tabaqat al-Umam. Hrsg: Louis Cheikho, Beirut (Imprimerie Catholique) 1912, S. 8-9.
[xiv] Abd ar-Rahman al-Kawakibi: Taba'i' al-Istibdad wa Masari' al-Isti'bad. Cairo, 1899, S. 79. Zitiert in Hisham Sharabi: Arab Intellectuals and the West: The Formative Years, 1875-1914. Baltimore (Johns Hopkins Press) 1971), S. 98.
[xv] Auf Türkisch reimt sich das: "Ingiliz dinisiz, Fransïz jansïz, Engerus menhus, Rus ma'kus, Alman biaman." Zitiert in Bernard Lewis: The Muslim Discovery of Europe. New York (W. W. Norton) 1982, S. 174.
[xvi] The Turkish Times, 1. November 1991.
[xvii] Jahangir Amuzegar: The Dynamics of the Iranian Revolution: The Pahlavis Triumph and Tragedy. Albany, N.Y. (State University of New York Press) 1991, S. 99-100.
[xviii] John Stuart Mill: The Logic of the Moral Sciences. Mineola, N.Y.: Dover, 2020, S. 71. Erstmals veröffentlicht 1872.