Interview durch Niram Ferretti.
L'Informale: Wäre Ihr verstorbener Vater Richard Pipes, ein führender Wissenschaftler für russische Geschichte, von Wladimir Putins Aggressionskrieg gegen die Ukraine überrascht gewesen?
Daniel Pipes: Ich muss berichten, dass er, obwohl er jemand war, dessen öffentliche Karriere sich auf Warnungen wegen der Gefahr russischer Aggression konzentrierte, Putin verkannte. 2011 sagte er: "Die NATO wurde ausdrücklich gegen die russische Bedrohung geschaffen. Die russische Bedrohung gibt es nicht... Also glaube ich, die Zeit ist gekommen darüber nachzudenken sie aufzulösen."
L'Informale: Sergeij Karaganow, den man "den Mann hinter Putins Streitsucht" nennt, hat gesagt: "Wir fühlen uns, als wären wir Teil eines gewaltigen Ereignisses in der Geschichte und es geht nicht nur um den Krieg in der Ukraine, es geht um die endgültige Zerschlagung des internationalen Systems, das nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurde." Er hat auch erklärt, dass Russland "sich mit dem Westen im Krieg befindet". Ihre Gedanken?
Daniel Pipes: Die Jahrhunderte alte eurasische Denkschule scheint Putins Fantasie eingenommen und seine Ambitionen befeuert zu haben. Nun, ja, wenn Russland sich wünscht mit dem Westen im Krieg zu liegen, wird es einen bekommen. Aber alle wären ohne eine solche destruktive Idee besser dran.
L'Informale: Der Widerstand der Ukraine gegen Russland ist von militärischer und Wirtschaftshilfe der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeter abhängig gewesen. Bitte bewerten Sie die Politik der Administration Biden gegenüber der Ukraine.
Daniel Pipes: Ziemlich gut. Die Vorbereitung hätte besser gewesen sein können und Waffen könnten schneller fließen, aber die Administration liegt in den Grundlagen richtig und hat die notwendige Führung gezeigt. Mit der Zeit verbessern sich die Politik und das Handeln.
L'Informale: Putin rechtfertigt seinen Krieg gegen die Ukraine mit der angeblichen Bedrohung der russischen Sicherheit durch die NATO-Erweiterung in Mitteleuropa und einige westliche politische Analysten (z.B. John Mearsheimer) stützen dieses Argument. Ihr Kommentar?
Daniel Pipes: Im Westen gibt es einen Unterton der Selbstkritik und Sympathie für Putin, besonders bei der politischen Rechten, aber bisher hat das keine politische Bedeutung und ich erwarte, dass das politisch ohne Macht bleibt. Zufälligerweise bin ich davon überrascht, dass die Linke im Allgemeinen besser auf die Ukraine-Krise reagiert hat als die Rechte.
L'Informale: Wird dieser Krieg mit mehr Tränen für die Ukraine und den Westen enden oder mit mehr für Russland?
Daniel Pipes: Russland. Die Krise wird für Russland in Tragödie enden, egal, wie gut seine Truppen sich auf dem Schlachtfeld schlagen, egal, wie die innenpolitische Unterstützung aussieht und egal, wie hilfreich Peking und andere handeln. Der Einmarsch in die Ukraine ist vergleichbar mit dem Einmarsch Saddam Husseins in Kuwait 1990. Beide schaden dem Aggressor sogar mehr als dem Opfer.
Der Einmarsch in die Ukraine ist vergleichbar mit dem Einmarsch Saddam Husseins in Kuwait 1990. Beide schaden dem Aggressor sogar mehr als dem Opfer. |
L'Informale: Israels Haltung gegenüber Russland seit dem 24. Februar ist verhalten gewesen, hauptsächlich weil man nicht will, dass Russland bei den israelischen Schlägen in Syrien gegen iranische und Hisbollah-Ziele stört. Trotz dieser Vorsicht ist Moskau Israel gegenüber feindselig gewesen (z.B. sagte Außenminister Sergej Lawrow über den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenksij, dass die schlimmsten Antisemiten Juden sind und Hitler jüdisches Erbe hatte). Zahlt sich die israelische Vorsicht aus?
Daniel Pipes: Soweit ich weiß, sind alle unangenehmen russischen Reaktionen auf Israel auf Worte beschränkt gewesen, ohne Taten. Das erlaubt dem Kreml seine Unzufriedenheit zu knurren ohne einen neuen Feind zu schaffen, den es im Moment sicher nicht haben will. Also ja, die israelische Vorsicht hat funktioniert.
L'Informale: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat die NATO bei der Aufnahme von Schweden und Finnland erpresst. Ist das ein kluger Schritt für ihn und sein Land?
Daniel Pipes: Nein, überhaupt nicht. Schwedens Regierung ist von einem kurdischen Abgeordneten abhängig, also wird sie nicht für Erdoğan stimmen; und Finnland ist praktisch irrelevant. Erdoğans dummes Spiel hat die NATO-Mitglieder weiter irritiert und bestätigte das bestehende Gefühl, dass die Türkei nur noch dem Namen noch ein Verbündeter ist.
L'Informale: Sie haben seit 2009 gefordert, dass die Türkei aus der NATO geworfen wird; ist das heute eine wahrscheinlichere Perspektive?
Daniel Pipes: Ist es nicht. Angefangen mit dem US-Verteidigungsministerium, hoffen die Militärs der NATO, dass die guten alten Tage zurückkehren und die Türkei dazu zurückkehren wird ein echter Verbündeter zu sein. Darüber hinaus erfordert der Rauswurf der Türkei aus der NATO Einstimmigkeit, die sehr schwer zu erzielen ist. Eine NATO 2.0 ohne die Türkei aufzubauen wäre viel einfacher, daher empfehle ich, das zu tun.
L'Informale: Staaten des Nahen Ostens haben den russischen Einmarsch kaum verurteilt. Warum?
Daniel Pipes: Auf formaler Ebene unterstützten 13 Nahost-Regierungen die Resolution der UNO-Vollversammlung vom 2. März, mit der Russland verurteilt wurde. Eine (Syrien) stimmte dagegen, 3 (Algerien, Iran, Irak) enthielten sich und eine (Marokko) stimmte nicht ab. Aber die unmittelbare Reaktion hat jetzt, wo die Ukraine-Krise zu einem Mangel an Dünger, Getreide, Gas und Tourismus geführt hat, wenig dauerhafte Bedeutung. Die meisten Staaten des Nahen Ostens haben mehr Interesse daran sich außer Gefahr zu halten, als an Moral oder langfristigen Interessen.
Die Anzeigetafel der UNO-Vollversammlung zur Abstimmung vom 2. März über Russlands Aggression gegen die Ukraine |
Daniel Pipes (DanielPipes.org, @DanielPipes) ist Präsident des Middle East Forum
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