Man kann den Unterschied zwischen dem Islam – dem einfachen Islam – und seiner fundamentalistischen Version nicht genug betonen. Der Islam ist die Religion rund einer Milliarde Menschen und ein stark wachsender Glaube, insbesondere in Afrika, aber auch an anderen Stellen in der Welt. Die Vereinigten Staaten z.B. können fast eine Million Konvertiten zum Islam aufweisen (plus einer noch größeren Zahl muslimischer Einwanderer).
Die Anhänger des Islam finden ihren Glauben immens anziehend, denn die Religion besitzt eine innere Stärke, die ziemlich außergewöhnlich ist. Wie eine führende Persönlichkeit in der Islamischen Republik Iran es ausdrückt: Jeder Westler, der den Islam wirklich versteht, wird auf das Leben der Muslime neidisch sein." Weit davon entfernt darüber verlegen zu sein, dass ihr Glaube der im Zeitablauf letzte der drei großen Monotheismen ist, glauben die Muslime, dass er die früheren verbessert. So, wie sie es darstellen, sind Judentum und Christentum nur schadhafte Varianten des Islam, der Gottes letzte, perfekte Religion ist.
Zu diesem internen Selbstvertrauen trägt die Erinnerung an herausragende Leistungen während der ersten etwa sechs Jahrhunderte des Islam bei. Seine Kultur war die am weitesten fortgeschrittene und Muslime erfreuten sich der besten Gesundheit, lebten am längsten, hatten die beste Bildung, sponserten die fortschrittlichste wissenschaftliche und technische Forschung und setzten gewöhnlich siegreiche Armeen ein. Dieses Erfolgsmuster war von Anfang an offensichtlich: Im Jahr 622 n.Chr. floh der Prophet Mohammed aus Mekka, um acht Jahre später als Herrscher zurückzukehren. Bereits im Jahr 715 hatten muslimische Eroberer ein Reich aufgebaut, das sich von Spanien im Westen bis Indien im Osten erstreckte. Muslim zu sein bedeutete einer Sieger-Zivilisation anzugehören. Die Muslime kamen zu der nicht überraschenden Annahme, dass ein Zusammenhang zwischen ihrem Glauben und ihrem weltlichen Erfolg bestand; sie nahmen an, dass Gott sie in spirituellen und irdischen Dingen bevorzugte.
In modernen Zeiten fehlen jedoch Siege auf dem Schlachtfeld und Wohlstand auffallend. In der Tat wurden bereits im 13. Jahrhundert die Verkümmerung des Islam und die Fortschritte des Christentums erkennbar. Aber fünf weitere Jahrhunderte beachteten die Muslime die außergewöhnlichen Entwicklungen weit gehend nicht, die sich in ihrem Norden abspielten. Ibn Khaldun, ein berühmter muslimischer Intellektueller, schrieb um das Jahr 1400 über Europa: Ich höre, dass viele Entwicklungen im Land der Run stattfinden, aber nur Gott weiß, was dort passiert!"
Solch halsstarrige Ignoranz machte die Muslime verletzbar, als sie nicht länger ignorieren konnten, was um sie herum geschah. Die vielleicht dramatischste Warnung kam im Juli 1798, als Napoleon Bonaparte in Ägypten landete – dem Zentrum der muslimischen Welt – und es mit verblüffender Leichtigkeit eroberte. Andere Angriffe folgten über das nächste Jahrhundert und darüber hinaus und bald darauf lebten die meisten Muslime unter europäischer Herrschaft. Als ihre Macht und ihr Einfluss schwanden, verbreitete sich unter den Muslimen ein Gefühl des Nichtbegreifens. Was war falsch gelaufen? Warum hatte Gott sie anscheinend im Stich gelassen?
Das Trauma des modernen Islam ist das Ergebnis dieses starken und unmissverständlichen Kontrastes zwischen mittelalterlichen Erfolgen und der danach kommenden Drangsal. Einfach gesagt, haben die Muslime eine ausgesprochenes Problem gehabt zu erklären, was falsch gelaufen ist. Der Lauf der Zeit hat diese Aufgabe auch nicht einfacher gemacht, denn dieselben unglücklichen Umstände bestehen im Grunde weiter. Welchen Katalog auch immer man anwendet, Muslime krebsen immer am unteren Rande der Skala, ob man nun ihr militärisches Können misst, die politische Stabilität, wirtschaftliche Entwicklung, Korruption, Menschenrechte, Gesundheit, Lebenserwartung oder Bildungsstand. Anwar Ibrahim, ehemaliger stellvertretender Premierminister von Malaysia, der jetzt im Gefängnis schmachtet, schätzt während der Asiatischen Renaissance (1997), dass die Muslime zwar ein Fünftel der Weltbevölkerung ausmachen, aber auch mehr als die Hälfte der 1,2 Milliarden Menschen in tiefster Armut. Daher gibt es ein beherrschendes Gefühl der Schwächung und Beeinträchtigung in der heutigen islamischen Welt. Wie der Imam einer Moschee in Jerusalem vor nicht allzu langer Zeit sagte: Früher waren wir die Herren der Welt und jetzt sind wir nicht einmal die Herren unserer eigenen Moscheen."
Auf der Suche nach Erklärungen für ihre missliche Lage haben die Muslime drei politische Antworten auf die Moderne ersonnen: Säkularismus, Reformismus und Islamismus. Der erste besagt, dass Muslime nur voran kommen können, indem sie dem Westen nacheifern. Ja, gestehen die Säkularisten zu, der Islam ist ein wertvolles und geachtetes Erbe, aber seine öffentlichen Dimensionen müssen beiseite geräumt werden. Insbesondere sollte das heilige Gesetz des Islam (die Scharia) – die Fragen wie das Justizsystem beherrschen, die Art, wie muslimische Staaten in den Krieg ziehen und der Natur der sozialen Interaktionen zwischen Männern und Frauen – in seiner Gesamtheit aufgegeben werden. Das führende säkulare Land ist die Türkei, wo Kemal Atatürk in der Zeit von 1923 bis 1938 eine überwiegend muslimische Gesellschaft umgeformt und modernisiert hat. Alles in Allem ist aber der Säkularismus eine Minderheitenposition unter den Muslimen und selbst die Türkei befindet sich in Belagerungszustand.
Der Reformismus, der eine Stellung im trüben Mittelfeld einnimmt, bietet eine populärere Antwort auf die Moderne. Während der Säkularismus direkt dazu aufruft vom Westen zu lernen, eignet sich der Reformismus selektiv Dinge von ihm an. Der Reformist sagt: Schau, der Islam ist grundsätzlich mit westlichen Verhältnissen vereinbar. Es ist nur so, dass wir unsere Leistungen vergessen haben, die der Westen ausnutzte. Wir müssen nun zu unseren eigenen Verhältnissen zurückfinden, indem wir sie vom Westen übernehmen." Um zu diesem Schluss zu gelangen, lasen die Reformer die islamischen Schriften in einem westlichen Licht. Zum Beispiel erlaubt der Koran einem Mann vier Ehefrauen zu nehmen – unter der Bedingung, dass er sie alle gleich behandelt. Traditionell und ganz logisch verstanden die Muslime diesen Vers als Erlaubnis, dass ein Mann vier Ehefrauen nimmt. Aber weil einem Mann im Westen nur eine erlaubt ist, vollführten die Reformer einen Taschenspielertrick und interpretierten den Vers auf neue Weise: Der Koran, behaupten sie, verlangt, dass ein Mann seine Ehefrauen gleich behandeln muss, was klar etwas ist, das kein Mann tun kann, wenn es mehr als eine gibt. Daher, schließen sie, verbietet der Koran mehr als eine Frau.
Die Reformer haben diese Art der Begründungen in allen Bereichen angewendet. Zum Beispiel machen sie geltend, dass die Muslime keine Vorbehalte gegenüber den Wissenschaften haben sollten, weil die Wissenschaften in Wirklichkeit muslimisch sind. Sie erinnern daran, dass das Wort Algebra" aus dem Arabischen kommt, von aj-jabr. Da Algebra der Kern der Mathematik ist und die Mathematik der Kern der Wissenschaften, stammt alle moderne Wissenschaft und Technologie daher von Arbeit ab, die von Muslimen geleistet wurde. Deshalb gibt es keinen Grund die westlichen Wissenschaften zurückzuweisen; es ist eher eine Frage der Rückholung dessen, was ursprünglich der Westen genommen (oder gestohlen) hatte. In einem Fall nach dem anderen und mit einem unterschiedlichem Grad an Glaubwürdigkeit eigenen sich die Reformer westliche Dinge unter dem Mantel an, dass man eigentlich das eigene Erbe benutzt. Das Ziel der Reformer ist also, den Westen zu imitieren ohne das zuzugeben. Obwohl intellektuell unredlich, funktioniert der Reformismus als politische Strategie ganz gut.
Die ideologische Antwort
Die dritte Antwort auf das moderne Trauma ist der Islamismus, Thema des Restes dieses Aufsatzes. Der Islamismus hat drei Hauptthemen: die Ergebenheit gegenüber dem heiligen Gesetz, die Ablehnung westlicher Einflüsse und die Umgestaltung des Glaubens in eine Ideologie.
Der Islamismus ist der Ansicht, dass die Muslime hinter dem Westen herhinken, weil sie keine guten Muslime sind. Um den verlorenen Glanz wiederzugewinnen, muss zu den alten Wegen zurückgekehrt werden und das wird erreicht, indem man in voller Übereinstimmung mit der Scharia lebt. Würden Muslime das tun, würden sie wieder an der Spitze der Welt stehen, wie das vor einem Jahrtausend der Fall war. Das ist jedoch keine leichte Aufgabe, da das heilige Gesetz eine riesige Zahl von Regeln beinhaltet, die jeden Aspekt des Lebens berühren, und von denen viele modernen Verhaltensweisen entgegen stehen. (Die Scharia ähnelt ein wenig dem jüdischen Gesetz, aber im Christentum gibt es nichts Vergleichbares.) So verbietet sie jegliche Zinsen, was starke und offensichtliche Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben hat. Sie fordert das Abschneiden der Hände von Dieben, was allen modernen Empfindungen widerspricht, genauso die verpflichtende Verhüllung der Frauen und die Trennung der Geschlechter. Der Islamismus fordert nicht nur die Anwendung dieser Gesetze, sondern eine rigorosere Anwendung als je zuvor. Vor dem Jahr 1800 milderten die Interpreten der Scharia sie ein wenig. Zum Beispiel fanden sie eine Methode, wie das Verbot von Zinsen vermieden werden konnte. Die Fundamentalisten lehnen solche Modifikationen ab und verlangen statt dessen, dass die Muslime die Scharia strikt und in ihrer Gesamtheit anwenden.
In ihren Bemühungen eine Lebensweise aufzubauen, die sich rein auf die Gesetze der Scharia stützt, streben die Islamisten danach alle Aspekte westlicher Einflüsse abzulehnen – Gewohnheiten, Philosophie, politische Institutionen und Werte. Trotz dieser Bemühungen nehmen sie immer noch große Mengen westlichen Lebens auf. Zum einen brauchen sie moderne Technologie, insbesondere ihre militärischen und medizinischen Anwendungen. Zum Anderen tendieren sie selbst dazu moderne Individuen zu sein und sind weitaus stärker von westlichen Dingen durchdrungen als sie sich das wünschen oder jemals zugeben würden. Ayatollah Khomeini, der traditioneller war als die meisten Islamisten, endete, als er versuchte eine Regierung auf den reinen Prinzipien des schiitischen Islam zu gründen, bei einer Republik, die auf einer Verfassung gründete, in der eine Nation durch die Entscheidungen eines Parlaments repräsentiert wird, das sich wiederum durch Wahlen des Volkes zusammensetzt – jeder einzelne Punkt davon ist ein westliches Konzept. Ein weiteres Beispiel westlichen Einflusses ist, dass der Freitag, der im Islam kein Tag der Ruhe, sondern ein Tag der Gemeindeversammlung ist, heute ein muslimisches Äquivalent zum Sabbat darstellt. Gleichermaßen gelten die Gesetze des Islam nicht für jeden, der innerhalb eines geographischen Territoriums lebt, sondern nur für Muslime; Islamisten jedoch begreifen sie als nach ihrer Natur territorial (wie ein im Sudan lebender italienischer Priester vor nicht allzu langer Zeit heraus fand, als er wegen Alkoholbesitzes ausgepeitscht wurde). Der Islamismus eignet sich so heimlich Dinge des Westens an, während geleugnet wird, dass man das tut.
Das vielleicht wichtigste an diesen Anleihen ist das Nachahmen westlicher Ideologien. Das Wort Islamismus" ist ein nützliches und genaues, denn es deutet an, dass dieses Phänomen ein den anderen Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts vergleichbarer -ismus" ist. In der Tat stellt der Islamismus eine islamisch gewürzte Version der radikalen utopischen Ideen unserer Zeit dar, die dem Marxismus-Leninismus und dem Faschismus folgt. Er führt eine große Bandbreite westlicher politischer und wirtschaftlicher Vorstellungen in die Religion des Islam ein. Ein Islamist, Muslimbruder aus Ägypten, formulierte das so: Wir sind weder sozialistisch noch kapitalistisch, sondern muslimisch"; ein Muslim der alten Zeit hätte gesagt: Wir sind weder Juden noch Christen, sondern Muslime."
Islamisten betrachten ihre Befolgung des Islam in erster Linie als eine Form politischer Treue; obwohl sie gewöhnlich fromme Muslime sind, müssen sie das nicht sein. Viele Islamisten scheinen tatsächlich eher wenig fromm zu sein. Zum Beispiel hatte Ramzi Yousef, der führende Kopf hinter dem Bombenanschlag auf das World Trade Center in New York 1993, eine Freundin, als er auf den Philippinen lebte und trieb sich in Manilas Bars, Striptease-Lokalen und Karaoke-Clubs herum, wo er mit Frauen flirtete". Deswegen und wegen weiterer Hinweise auf eine lockere Lebensführung findet sein Biograph Simon Reeve, kaum Belege für die Untermauerung der Beschreibung von Yousef als einem religiösen Krieger". Der für die Untersuchung Yousefs zuständige FBI-Agent schlussfolgerte: Er versteckte sich hinter dem Deckmantel des Islam."
Auf einer breiteren Ebene deutete Ayatollah Khomeini die Irrelevanz des Glaubens für Islamisten in einem Brief an Michail Gorbatschow von Anfang 1989 an, als die Sowjetunion schon rasch ihrem Ende entgegen ging. Der iranische Führer bot seine eigene Regierung als Modell an: Ich verkünde offen, dass die Islamische Republik Iran als größte und mächtigste Basis der islamischen Welt leicht helfen kann das ideologische Vakuum Ihres Systems zu füllen." Khomeini schien hier vorzuschlagen, dass die Sowjets sich der islamistischen Ideologie zuwenden sollten – Konvertierung zum Islam schien fast ein erst nachträglicher Einfall zu sein.
Im Gegensatz zu seinem Ruf ist der Islamismus kein Weg zurück; als zeitgenössische Ideologie bietet sie keine Mittel zur Rückkehr zu altmodischen Lebensweisen, sondern eine Möglichkeit durch die Untiefen der Modernisierung zu navigieren. Mit wenigen Ausnahmen (bemerkenswerterweise die Taliban in Afghanistan) sind Islamisten Stadtbewohner, die versuchen mit dem modernen städtischen Leben klar zu kommen – nicht Leute vom Land. Daher spielen die Herausforderungen an Karrierefrauen eine herausragende Rolle in islamistischen Diskussionen. Wie, zum Beispiel, kann sich eine Frau, die überfüllte öffentliche Transportmittel benutzen muss, davor schützen angegrapscht zu werden? Die Islamisten haben eine Antwort parat: Sie sollte sich bedecken, Körper und Gesicht, und durch das Tragen islamischer Kleidung signalisieren, dass an sie nicht herangetreten werden soll. Weiter gefasst bieten sie einen inklusiven und alternativen Lebensstil für moderne Personen, einen, der den ganzen Komplex der populären Kultur, Konsum und Individualismus zu Gunsten eines auf dem Glauben basierenden Totalitarismus ablehnt.
Abweichungen von der Tradition
Der Islamismus wird zwar oft als eine Form des traditionellen Islam angesehen, ist aber etwas vollkommen anderes. Der traditionelle Islam versucht Menschen beizubringen, wie sie im Einklang mit Gottes Willen leben, während der Islamismus die Schaffung einer neuen Ordnung anstrebt. Ersteres ist selbstbewusst, Letzteres ist zutiefst defensiv. Der eine betont die Individuen, der andere Gemeinschaften. Der Erste ist ein persönliches Glaubensbekenntnis, das Letzte eine politische Ideologie.
Die Unterscheidung wird am deutlichsten, wenn man die beiden Führungsriegen vergleicht. Traditionalisten durchlaufen einen statischen und langwierigen Kurs des Lernens, bei dem sie eine riesige Fülle an Informationen studieren und islamische Wahrheiten aufnehmen, ganz so, wie es ihre Vorfahren vor Jahrhunderten taten. Ihr Glaube reflektiert mehr als 1000 Jahre Diskussionen unter Gelehrten, Juristen und Theologen. Im Gegensatz dazu tendieren islamistische Führer dazu wissenschaftlich gut ausgebildet zu sein, aber nicht im Islam; als junge Erwachsene gehen sie Probleme an, für die ihr modernes Lernen sie nicht vorbereitet hat, also wenden sie sich dem Islam zu. Indem sie das tun, ignorieren sie die gesammelten Werke islamischer Gelehrsamkeit und interpretieren den Koran, wie es ihnen passt. Als Autodidakten verwerfen sie die Traditionen und wenden ihre eigenen (modernen) Empfindungen auf die alten Texte an, was zu einer seltsam protestantischen Perversion des Islam führte.
Traditionelle Figuren, die in altmodischen Fachgebieten ausgebildet sind, frustriert die moderne Welt und setzt sie matt; sie haben keine europäischen Sprachen studiert, keine Zeit im Westen verbracht oder seine Geheimnisse gemeistert. Traditionalisten wissen z.B. selten, wie Radio, Fernsehen und Internet genutzt werden, um ihre Botschaft zu verbreiten. Im Gegensatz dazu sprechen die Islamisten gewöhnlich westliche Sprachen, haben oft im Ausland gelebt und tendieren dazu technisch beschlagen zu sein. Im Internet gibt es hunderte islamistische Seiten. François Burgat und William Dowell zeigen diesen Gegensatz in ihrem Buch The Islamist Movement in North Africa" (1993) auf.
Der Dorfälteste, der dem religiösen Establishment nahe steht und wenig über westliche Kultur weiß (von der er Technologie ungeprüft ablehnt), kann nicht mit dem jungen Student der Wissenschaften verwechselt werden, der mehr als in der Lage ist eine Kritik an westlichen Werten zu liefern, die ihm vertraut sind und von denen er sich gewisse Dimensionen aneignen kann. Der Traditionalist wird das Fernsehen ablehnen, aus Angst vor dem verheerendem Modernismus, den es bringen wird; der Islamist fordert die Zunahme der Geräte ... sobald er die Kontrolle über die Sendungen gewonnen hat.
Aus unserer Perspektive ist am wichtigsten, dass Traditionalisten den Westen fürchten, während Islamisten begierig sind ihn herauszufordern. Der verstorbene Mufti von Saudi Arabien, Abd al-Aziz Bin-Baz, ist ein Beispiel für die ängstliche alte Garde. Im Sommer 1995 warnte er die saudische Jugend vor Ferienreisen in den Westen, denn: Es gibt ein tödliches Gift in Reisen in das Land der Ungläubigen und es gibt Pläne, Muslime von ihrer Religion wegzulocken, Zweifel über ihren Glauben zu schaffen und Aufruhr unter ihnen zu verbreiten." Er drängte die Jugend ihre Sommer in der Sicherheit" der Ferienorte im eigenen Land zu verbringen.
Die Islamisten sind den Ängsten zu diesen Plänen und Verlockungen nicht vollständig unzugänglich, aber sie haben Ambitionen den Westen zu zähmen und scheuen sich nicht, das der ganzen Welt zu verkünden. Die primitivsten unter ihnen wollen einfach Westler umbringen. In einer bemerkenswerten Äußerung sagte ein Tunesier, der wegen Bombenexplosionen in Frankreich in den Jahren 1985/86 mit dreizehn Toten verurteilt ist, dem zuständigen Richter: Ich werde meinen Kampf gegen den Westen nicht aufgeben, der den Propheten Mohammed ermordete... Wir Muslime sollten jeden einzelnen von euch (Westlern) töten." Andere planen die Ausdehnung des Islam nach Europa und Amerika und benutzen, wenn nötig, Gewalt. Ein Imam in Amsterdam erklärte in einem türkischen Fernsehprogramm: Ihr müsst die töten, die sich gegen den Islam stellen, die Ordnung des Islam oder Allah und seinen Propheten; hängt oder schlachtet sie, nachdem ihr ihre Hände und Füße über Kreuz gebunden habt wie es in der Scharia vorgeschrieben ist." Eine algerische Terrorgruppe, die GIA, gab 1995 ein Kommuniqué heraus, das den explodierenden Eiffelturm zeigt und vor Drohungen strotzte:
Wir setzen mit all unserer Kraft unsere Schritte des Jihad und militärischer Attacken fort und diesmal im Herzen Frankreichs und seinen größten Städte... Es ist ein Gelübde, dass die Franzosen keinen Schlaf mehr finden werden und keine Erholung und der Islam wird in Frankreich einziehen, ob es ihnen nun gefällt oder nicht.
Die moderateren Islamisten planen nicht gewalttätige Mittel zu nutzen, um ihre Gastgeberländer in islamische Staaten zu verwandeln. Für sie ist Konvertierung der Schlüssel. Ismail R. Al-Faruqi, ein führender amerikanisch-muslimischer Denker, formulierte diese Geisteshaltung etwas poetisch: Nichts könnte größer sein als dass dieser jugendliche, kraftvolle und reiche Kontinent [Nordamerika] sich von dem Bösen seiner Vergangenheit abkehrt und unter dem Banner Allahu Akbar [Gott ist groß] vorwärts marschiert."
Dieser Gegensatz legt nicht nur nahe, dass der Islamismus den Westen auf eine Art bedroht, wie es der traditionelle Glaube nicht tut, sondern deutet auch an, warum traditionelle Muslime, die oft die ersten Opfer des Islamismus sind, Verachtung für die Ideologie zum Ausdruck bringen. So sagte Naguib Mahfouz, Ägyptens Literaturnobelpreisträger, nachdem er von einem Islamisten in den Hals gestochen wurde: Ich bete zu Gott, dass er die Polizei über den Terror siegen lässt und Ägypten von diesem Übel reinigt, sie das Volk, die Freiheit und den Islam verteidigt." Tujan Faysal, ein weibliches Mitglied des jordanischen Parlaments, nennt den Islamismus eine der größten Gefahren für unsere Gesellschaft" und vergleicht ihn mit einem Krebs", der chirurgisch entfernt werden muss". Çevik Bir, eine der Schlüsselpersonen für die Beseitigung der islamistischen Regierung der Türkei von 1997, erklärt platt, dass in seinem Land der muslimische Fundamentalismus der Feind Nummer 1 bleibt". Wenn Muslime so empfinden, dann können das auch Nicht-Muslime; antiislamistisch zu sein heißt keineswegs antiislamisch zu sein.
Islamismus in der Praxis
Wie andere radikalen Ideologien betrachten die Islamisten den Staat als das Hauptinstrument zur Förderung ihres Programms. Angesichts der unpraktischen Strukturen ihrer Pläne sind die Schalthebel des Staates entscheidend für die Realisierung ihrer Ziele. Zu diesem Zweck führen Islamisten oft Oppositionsparteien (Ägypten, Türkei, Saudi Arabien) oder haben bedeutende Macht gewonnen (Libanon, Pakistan, Malaysia). Ihre Taktiken sind oft mörderisch. In Algerien haben islamistische Unruhen seit 1992 zu etwa 70.000 Toten geführt.
Wenn Islamisten die Macht übernehmen, wie im Iran, dem Sudan und Afghanistan, ist das Ergebnis ausnahmslos ein Desaster. Der wirtschaftliche Niedergang beginnt sofort. Der Iran, wo seit zwei Jahrzehnten der Lebensstandard beinahe unbarmherzig zurückgeht, bietet das auffallendste Beispiel. Persönliche Rechte werden missachtet, wie die Wiedereinführung der Leibeigenschaft im Sudan spektakulär zeigt. Die Unterdrückung der Frauen ist ein absolutes Muss, ein Verhalten, das in Afghanistan am dramatischsten zur Schau gestellt wird, wo sie von Schulen und Arbeitsstellen ausgeschlossen wurden.
Ein islamistischer Staat ist – fast per Definition – ein Schurkenstaat, der keine Regeln einhält außer denen der Zweckdienlichkeit und Macht, eine erbarmungslose Institution, die im In- wie im Ausland nur Elend verursacht. Islamisten an der Macht bedeutet, dass Konflikte wuchern, die Gesellschaft militarisiert wird, Waffenarsenale anwachsen und Terror ein Staatsinstrument wird. Es ist kein Zufall, dass der Iran am längsten konventionellen Krieg des zwanzigsten Jahrhunderts beteiligt war (1980-1988 gegen den Irak) und dass der Sudan wie Afghanistan sich mitten in Jahrzehnte dauernden Bürgerkriegen befinden, für die kein Ende in Sicht ist. Islamisten unterdrücken moderate Muslime und behandeln Nicht-Muslime als minderwertig. Seine Apologeten sehen im Islamismus gerne eine Kraft der Demokratie, aber damit wird das Schlüsselmuster ignoriert, wie Martin Kramer aufzeigt: Islamisten kommen eher zu weniger militanten Haltungen, weil sie von der Macht ausgeschlossen sind... Schwäche macht Islamisten moderater." Macht hat den gegenteiligen Effekt.
Der Islamismus ist seit mehr als einem Vierteljahrhundert im Aufstieg begriffen. Seine vielen Erfolge sollten aber nicht als Beweis dafür verstanden werden, dass er weit reichende Unterstützung hat. Eine brauchbare Schätzung könnte 10 Prozent der Muslime als dem islamistischen Ansatz folgend befinden. Statt dessen spiegelt die Macht, die die Islamisten ausüben, eine hoch engagierte, fähige und gut organisierte Minderheit wider. Ein wenig wie die Kader der kommunistischen Partei gleichen sie geringe Anzahl mit Aktivismus und Entschlossenheit aus.
Islamisten hegen eine tiefe Feindschaft gegenüber Nicht-Muslimen im Allgemein und Juden und Christen im Besonderen. Sie verachten den Westen wegen seines kulturellen Einflusses und weil er ein traditioneller Gegner ist – der alte Rivale, das Christentum, in neuem Gewand. Einige von ihnen haben gelernt ihre Ansichten zu mäßigen, um westliche Zuhörerschaften nicht zu verärgern, aber die Tarnung ist dünn und sollte niemanden täuschen.