Die Allerweltsweisheit, nach der wirtschaftliche Not den militanten Islam hervorbringe, hat viele einflussreiche Verfechter. Sogar einige Islamisten argumentieren so. Zum Beispiel meint Mahmud az-Zahar, ein Hamas-Führer in Gaza: "Es genügt, die verarmten Außenbezirke von Algier oder die Flüchtlingscamps in Gaza zu sehen, um zu verstehen, was die islamische Widerstandsbewegung stark macht." Aus diesem Grund, und um Anhänger anzulocken, bieten die islamistischen Organisationen breit gefächerte soziale Fürsorge an. Und sie propagieren eine "islamische Wirtschaft" als "das barmherzigste gesellschaftliche Solidarsystem".
Aber nicht nur die Islamisten, auch viele säkulare Muslime wie der ehemalige türkische Ministerpräsident Demirel sagen, die Armut sei die Quelle des militanten Islam. Linke im Mittleren Osten stimmen zu und deuten den Aufstieg des Islamismus als Ausdruck von Pessimismus: Weil die Menschen verzweifelt seien, flüchteten sie ins Übernatürliche. Der Sozialwissenschaftler Hushang Amirahmadi, ein Gelehrter iranischer Herkunft, behauptet, dass "die Wurzeln des islamischen Radikalismus außerhalb der Religion gesucht werden müssen: in der realen Welt kultureller Verzweiflung, ökonomischen Niedergangs, politischer Unterdrückung und geistigen Aufruhrs, in der sich die meisten Muslime von heute befinden".
Bei westlichen Politikern findet diese Argumentation ebenfalls Anklang. Für den früheren US-Präsidenten Bill Clinton "speisen sich diese Kräfte der Reaktion aus der Desillusionierung, der Armut und der Verzweiflung", und Israels Außenminister Schimon Peres stellt kurz und knapp fest, dass "der Fundamentalismus eine Form des Protests gegen Armut, Korruption, Unwissen und Diskrimminierung" darstelle.
Doch die Tatsachen belegen kaum diesen behaupteten Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Lage und militantem Islam. Ökonomische Kriterien erweisen sich als untauglich, wenn man voraussagen will, wo der Islamismus erstarken wird und wo nicht. Nehmen wir das Beispiel Ägypten: 1980 interviewte der Soziologe Saad Eddin Ibrahim im Rahmen eines Forschungsprojekts Islamisten in ägyptischen Gefängnissen und fand heraus, dass das typische Mitglied dieser Gruppe "jung ist (Anfang zwanzig), aus ländlichen Gegenden oder kleinen Städten stammt, der Mittelschicht oder unteren Mittelklasse angehört, über hohe Leistungsfähigkeit und Motivation verfügt, außerordentlich mobil und mit einer wissenschaftlichen oder technischen Ausbildung ausgestattet ist sowie aus einer normalen intakten Familie kommt".
Mit anderen Worten: Diese jungen Männer lagen "deutlich über dem Durchschnitt ihrer Generation", sie waren "ideale oder modellhafte junge Ägypter". In einer nachfolgenden Studie fand Ibrahim heraus, dass von 34 Mitgliedern der gewalttätigen Gruppe At-Takfir w'al-Hijra nicht weniger als 21 ihre Väter im öffentlichen Dienst hatten, fast alle in mittleren Positionen. Kürzlich entdeckte der kanadische Geheimdienst, dass die Führung der militanten islamischen Gruppe Al-Dschihad "zum großen Teil akademisch gebildet ist und ihren sozialen Hintergrund in der Mittelklasse hat". Sie sind keineswegs Kinder von Armut und Verzweiflung.
Das fand auch die amerikanische Journalistin Geraldine Brooks heraus. Sie war völlig überrascht, als ihre Assistentin in Kairo zur Islamistin wurde: "Ich hatte angenommen, dass die Hinwendung zum Islam eine Verzweiflungshandlung armer Leute sei, die nach himmlischer Tröstung suchten. Aber Sahar (die Assistentin) war weder verzweifelt noch arm. Ihr Platz war irgendwo nahe der Stratosphäre der peinlich genau geordneten ägyptischen Gesellschaft." Bezeichnend ist ebenso die Einschätzung des Journalisten Hamza Hendawi: In Ägypten "bringt eine neue Sorte von Predigern in Nadelstreifenanzügen und mit Handys eine wachsende Zahl von Reichen und Mächtigen vom westlichen Lebensstil ab und macht den religiösen Konservatismus für sie attraktiv. Diese modernen Imame halten ihre Seminare an Festtafeln in einigen der luxuriösesten Häuser von Kairo und in Ägyptens Badeorten, um die Stil- und Bequemlichkeitsbedürfnisse der Wohlhabenden anzusprechen."
Was für Ägypten gilt, trifft auch in anderen Ländern zu: Wie in den Hochzeiten des Faschismus und Marxismus-Leninismus zieht der militante Islam in großem Maße kompetente, motivierte und ehrgeizige Individuen an. In dieses Schema von finanzieller Sorglosigkeit und gehobener Ausbildung passen selbst jene Islamisten, die das letzte Opfer bringen: ihr Leben. Eine überdurchschnittliche Zahl von Terroristen und Selbstmordattentätern verfügt über höhere Bildung und arbeitet häufig in Ingenieurberufen oder in den Wissenschaften. Diese generelle Feststellung gilt für palästinensische Selbstmordattentäter ebenso wie für die Anhänger Osama bin Ladens, die am 11. September mit entführten Flugzeugen die Anschläge von New York und Washington verübten. Dieses Fazit leuchtet ein, sobald man begreift, dass die Selbstmordattentäter ihr Leben nicht wegwerfen, um gegen materielle Entbehrungen zu protestieren, sondern um die Welt zu verändern.
Martin Kramer, der Herausgeber des Middle East Quarterly, schreibt, der militante Islam sei "das Instrument von Gegeneliten, die nach Maßgabe ihrer Ausbildung und/oder ihres Einkommens potenzielle Mitglieder der Elite sind, aber aus dem einen oder anderen Grund von ihr ausgeschlossen wurden. Vielleicht fehlt ihrer Berufsausbildung ein entscheidendes, prestigeträchtiges Element, vielleicht stammt ihr Reichtum aus trüben Quellen. (...) So sind sie zwar ausgebildet und wohlhabend, hegen aber dennoch einen Groll. (...) Der Islamismus ist für solche Leute von besonderem Nutzen - nicht zuletzt, weil es dank seiner tiefgreifenden Manipulationsmethoden möglich ist, Anhänger unter den Armen zu sammeln, die dann ein wertvolles Fußvolk abgeben."
Die so genannten anatolischen Tiger - Geschäftsleute, die eine dubiose Rolle bei der Unterstützung der türkischen islamistischen Partei spielen - sind für Martin Kramer das Paradebeispiel für eine solche Gegenelite.
Was für Individuen gilt, zeigt sich auch in den Gesellschaften. Vier Thesen dazu:
Erstens: Reichtum immunisiert nicht gegen den radikalen Islam. Die Kuwaiter haben Einkommen auf westlichem Niveau (und verdanken dem Westen sogar ihre staatliche Existenz) - und dennoch erringen die Islamisten bei Parlamentswahlen unter allen Gruppierungen regelmäßig den größten Anteil der Sitze (gegenwärtig 20 von 50). Der radikale Islam gedeiht in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und in Nordamerika. In den USA genießen die Muslime als Gruppe einen höheren Lebensstandard als der Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Und unter diesen Muslimen haben die Islamisten im Allgemeinen die höheren Einkommen.
Zweitens: Eine florierende Wirtschaft immunisiert nicht gegen den radikalen Islam. Die heutigen militanten Islamistenbewegungen begannen ihren Aufstieg in den siebziger Jahren - genau zu einer Zeit, als die Erdöl exportierenden Staaten außergewöhnlich hohe Wachstumsraten verzeichneten. Der Libyer Muammar al-Ghaddafi entwickelte damals seine exzentrische Version eines frühen militanten Islamismus; fanatische Gruppen in Saudi-Arabien besetzten gewaltsam die Große Moschee in Mekka - und Ayatollah Khomeini übernahm die Macht im Iran (wobei sich allerdings die dortige Wirtschaft schon einige Jahre vor dem Umsturz im Abschwung befand). In den achtziger Jahren verzeichneten mehrere Länder, deren ökonomische Entwicklung besonders erfolgreich war, einen Boom des militanten Islam. Jordanien, Tunesien und Marokko kamen in den neunziger Jahren wirtschaftlich gut voran - doch ebenso gut entwickelten sich die extremistischen islamischen Bewegungen. Die Türken erfreuten sich unter Turgut Özal eines eindrucksvollen Wirtschaftswachstums und traten doch in wachsender Zahl den militanten islamischen Parteien bei.
Drittens: Nicht Armut bringt den militanten Islam hervor. Es gibt viele sehr arme muslimische Staaten, aber die wenigsten von ihnen wurden zu Zentren des Islamismus: weder Bangladesch noch der Jemen noch Niger. Wie ein amerikanischer Experte zu Recht feststellte, ist "wirtschaftliche Hoffnungslosigkeit, die häufig als Nährboden des politischen Islam angeführt wird, im Mittleren Osten ein seit langem vertrauter Zustand". Wenn der militante Islam also mit Armut zu tun hat, warum stellte er dann in früheren Jahren, als die Region ärmer war als heute, keine nennenswerte Kraft dar?
Viertens: Eine notleidende Wirtschaft im Niedergang ist nicht der Auslöser für militanten Islamismus. Der Crash in Indonesien und Malaysia hat keine islamistische Welle erzeugt. Die Einkommen im Iran sind seit der Errichtung der Islamischen Republik 1979 um die Hälfte gesunken - doch denken die Menschen nicht daran, die radikale Ideologie des Regimes zu verstärken. Im Gegenteil, die Verelendung hat sie dem Islam entfremdet. Den Irakern geht es noch schlechter. Abbas Alnasrawi schätzt, dass ihr Pro-Kopf-Einkommen seit 1980 um fast 90 Prozent und damit auf den Stand der vierziger Jahre gesunken ist. Doch weder hat es im Irak einen Aufstand des Islamismus gegeben, noch ist er der vorherrschende Ausdruck regimekritischer Stimmungen geworden.
Würde Armut den militanten Islam verursachen, wäre umfassendes Wachstum die Lösung des Problems. Und in der Tat plädieren die Verantwortlichen in so unterschiedlichen Ländern wie Ägypten und Deutschland dafür, den Schwerpunkt bei der Bekämpfung des militanten Islam auf die Entwicklung von Wohlstand und die Schaffung von Arbeitsplätzen zu legen.
Das hat praktische Konsequenzen. Ein Beispiel: Vor dem Osloer Abkommen 1993 hatten die Israelis darauf bestanden, dass die Vorbedingung für die Beilegung des Konflikts die dauerhafte Anerkennung des jüdischen Staates durch die Araber sei. Also setzte man sich das Ziel, den Lebensstandard der Araber zu verbessern - in der Hoffnung, dies würde die Anziehungskraft des militanten Islam und anderer radikaler Ideologien verringern. Eine Starthilfe für ihre Wirtschaft sollte das Interesse der Palästinenser am Friedensprozess steigern und zugleich die Attraktivität der Hamas und des Islamischen Dschihad reduzieren. Westliche Länder und Israel stellten deshalb den palästinensischen Behörden Milliarden von Dollar zur Verfügung.
Doch Wohlstand beseitigt keine Hassgefühle. Ein wohlhabender Feind ist unter Umständen bloß ein Feind, der besser Krieg führen kann. Die Hoffnungen des Westens und Israels wurden enttäuscht: Sie hatten erwartet, dass die Palästinenser wirtschaftlichem Wachstum allen Vorrang einräumen würden. Doch für die Palästinenser war das nur ein untergeordnetes Anliegen, wesentlich stärker zählten für sie Fragen der Identität und der Macht.
Wenn also Armut nicht die Triebkraft des militanten Islam ist, folgt daraus: Wohlstand ist nicht die Lösung des Islamismusproblems, und mit Wirtschaftshilfe lässt es sich nicht bekämpfen. Einen Ausweg bietet auch nicht die Verwestlichung der Gesellschaften. Im Gegenteil: Viele herausragende islamistische Führer kennen die westliche Lebensart nicht nur aus eigener Anschauung, sondern sind darin bereits regelrechte Experten. Mitunter scheint es, als fördere die Verwestlichung geradezu den Hass auf den Westen. Zudem gilt: Wirtschaftliches Wachstum führt nicht notwendigerweise zu verbesserten Beziehungen mit muslimischen Staaten.
Wäre es also möglich, dass der militante Islam ein Kind des Wohlstands ist und nicht der Armut? Ja. Denn immerhin gibt es das universelle Phänomen, dass Völker ein größeres ideologisches wie politisches Engagement entwickeln, wenn sie einen gewissen Lebensstandard erreicht haben. Wie schon oft bemerkt, finden Revolutionen erst statt, wenn sich eine wirkliche Mittelklasse entwickelt hat. Dazu gesellt sich ein spezifisch islamisches Phänomen: die historische Verbindung des Glaubens mit dem weltlichen Erfolg.
Von den Zeiten des Propheten Mohammed bis zum Osmanischen Reich tausend Jahre später hatten Muslime meist größeren Reichtum und mehr Macht als andere Völker. Sie waren auch gebildeter und gesünder. Islamischer Glaube wurde deshalb mit weltlichem Wohlbefinden gleichgesetzt. Das scheint manchmal noch heute zu gelten. So profitierten vom Ölboom der siebziger Jahre vor allem Muslime. Und es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass der gegenwärtige Islamismus damals begann. Weil sich die Islamisten als Pioniere einer Bewegung sehen, die eine Alternative zur westlichen Zivilisation bietet, brauchen sie ein starkes wirtschaftliches Fundament. Arme Muslime neigen eher dazu, sich anderen Glaubensrichtungen zu öffnen. Über Jahrhunderte hinweg verlor die Religion gerade dann an Einfluss, wenn die Verhältnisse schlecht waren. Kurz: Vieles spricht dafür, dass der militante Islam eher aus dem Erfolg denn aus der Niederlage erwächst.
Islamisten rücken die Frage des Wohlstands selten in den Mittelpunkt ihrer Reden. Ayatollah Khomeini sagte: "Wir haben keine Revolution entfacht, um den Preis für Melonen zu senken." Wohlstand steht bei ihnen nicht für das gute Leben, sondern dafür, besser zum Krieg gegen den Westen gerüstet zu sein. Geld dient Islamisten dazu, Kader auszubilden und Waffen zu kaufen, nicht aber, um ein größeres Haus oder das neueste Automodell zu erwerben. Reichtum ist für sie ein Mittel, kein Zweck.
Es ist ein Mittel zur Macht. Ali Akbar Mohtaschemi, ein führender Scharfmacher im Iran, hat prophezeit, dass "der Islam am Ende die dominierende Macht werden wird". Und Mustafa Maschhur, ein ägyptischer Islamist, verkündet, der Kampfruf "Gott ist groß" werde anschwellen, "bis sich der Islam überall in der Welt verbreitet hat".
Erst wenn wir die ökonomische Dimension des Islamismus nicht mehr überbewerten und stattdessen seine religiöse, kulturelle und politische Dimension stärker beachten, erst dann beginnen wir wirklich, die Ursachen des militanten Islam zu verstehen.