Herausgegeben von Wladyslaw Pleszczynski
Stanford: Hoover Institution Press, 2002, S. 41-61
"Die muslimische Welt hat sich verändert", sagt man im Westen oft in Kommentaren zum 11. September, aber wenige Muslime sehen das auch so. Mit einander widersprechenden Erklärungen am 7. Oktober, dem Tag, an dem der Krieg in Afghanistan begann, gaben Präsident George Bush und Osama bin Laden Beispiele für diesen Unterschied. Während der erste von "plötzlichem Terror" sprach, der die USA erst 27 Tage vorher getroffen hatte, berichtete der zweite, dass die muslimische Welt mehr als 80 Jahr "Erniedrigung und Unehre" durch Amerikaner erleben musste, in denen ihre Söhne getötet und ihre Heiligtümer geschändet wurden. 27 Tage gegen 80 Jahren fasst den Unterschied zwischen einem sprachlosen amerikanischen Gefühl der zerrissenen Unschuld und dem brodelnden Gefühl epochalen Betrugs und Traumas auf Seiten des militanten Islam zusammen. Aus diesem und anderen Gründen war die muslimische Welt vom Tod von mehr als dreitausend Amerikanern nicht annähernd so aufgerüttelt wie der Westen.
Um weiter gefasst den Einfluss des 11. September auf die muslimische Welt zu verstehen, muss die Antwort des Westens bei Seite geschoben werden; man muss sich in die muslimischen Empfindlichkeiten versetzen. Der beste Ort, das zu beginnen, ist ein Verständnis des tiefen Grolls gegen den Westen, den bin Laden ausformuliert und den so viele Muslime teilen.
Islamische Geschichte und die Feindschaft gegenüber dem Westen
Diese Wut hat tiefe Wurzeln. Seit dem Beginn der islamischen Religion im siebenten Jahrhundert und für mehr oder weniger ein Jahrtausend danach war die Geschichte der Muslime die eines beständigen weltlichen Erfolgs. Nach welchem Maßstab auch immer man urteilt - Macht, Wohlstand, Gesundheit oder Bildung - die Muslime an der spitze globaler Erfolge. Diese Verbindung zwischen der Annahme der islamischen Botschaft und der offensichtlichen Belohnung durch Gott betraf so viele Aspekte des Lebens an so vielen Orten über eine so lange Zeitspanne, dass Muslime sehr bereit annahmen, dass mondänes Wohlergehen ihnen als Zeichen von Gottes Wohlwollen zustand. Muslim zu sein, bedeutete auf der Seite der Sieger zu stehen.
Aber dann, ungefähr zu Beginn des 19. Jahrhunderst, gingen die Dinge schief. Macht, Wohlstand, Gesundheit und Bildung gingen an andere Orte, besonders nach Europa, das lang als rückständig verachtet wurde. Seit zwei langen Jahrhunderten haben Muslime andere Völker, besonders christliche, voranstürmen sehen. Nicht nur, dass Frankreich, England und die USA das in großem Stil taten, seit Kurzem hat Ostasien die muslimische Welt überholt. Das Ergebnis ist ein Gefühl des Versagens, das das muslimische Leben überzogen hat. Wenn der Islam Gottes Gunst bringt, haben sich viele Muslime gefragt, warum geht es den Muslimen dann so schlecht? Dieses Trauma, dass alles falsch läuft, ist der Schlüssel zum Verständnis des modernen Islam.
Das hat große Fragen aufgeworfen, was getan werden muss, um die richtige Richtung zu finden; aber es gibt wenig befriedigende Antworten. Trotz umfassender Selbstsuche haben die Muslime bisher keine Antwort auf die Frage gefunden, was falsch gelaufen ist. Stattdessen sind sie von einem Schema zum nächsten getorkelt, fanden aber nirgendwo Befriedigung. Eine Reihe von Fehlstarts haben die Muslime tief verwirrt über ihr Schicksal und nicht gerade wenig frustriert zurück gelassen. Insgesamt empfinden die Muslime selbst ihren auffallend fehlenden Erfolg der Versuche, aus ihren derzeitigen, erniedrigenden Umständen herauszukommen.
Dieses Gefühl des Versagens geht sehr weit, um die akute Feindseligkeit gegen den Westen zu erklären, der in den meisten muslimischen Gesellschaften vorherrscht. Muslime erkennen vage, dass, wie Martin Kramer es ausdrückt, "der Nahe Osten vor tausend Jahren der Schmelztiegel der Weltzivilisation waren", während er heute "am Rand einer Weltzivilisation schmollt, die im Westen geschmiedet wird".1 Dieses Schmollen hat sich in Wut, Neid, Feindschaft, irrationale Furcht, Verschwörungstheorien und politischen Extremismus übertragen. Diese Emotionen unternehmen viel, um die Neigung zu einer Reihe radikaler Ideologien zu verantworten, die (wie Faschismus und Leninismus) importiert und (wie Panarabismus und Pansyrismus) hausgemacht sind. Jede dieser Bewegungen bestätigt im Gegenzug das Gefühl, dass der Westen der Feind ist.
Heute ist der stärkste Träger solcher Emotionen der militante Islam (auch als Islamismus bekannt), eine politische Bewegung, die die Religion des Islam zur Grundlage einer totalitären Ideologie macht, die viel mit früheren Versionen teilt, besonders mit dem Faschismus und dem Marxismus-Leninismus. Wie diese sucht er z.B. den Kapitalismus und Liberalismus als vorherrschende Weltordnung zu ersetzen. Die Anziehungskraft des militanten Islam unternimmt große Anstrengungen, um den antiwestlichen Hass zu begründen, der aus vielen Muslimen an vielen Orten auf der ganzen Welt spricht, darunter auch muslimische Einwohner des Westens selbst.
Islamisten stellen eine lange Liste von Ländern auf, von denen sie glauben, das muslimische Herrscher die Drecksarbeit des Westens erledigen, indem sie ihre Bewegung unterdrücken: Algerien, die Türkei, Ägypten und Malaysia sind berühmte Beispiele. Sie haben auch eine weitere Liste - Kaschmir, Afghanistan, Tschetschenien und der Sudan stehen auf dieser weit oben -, wo sie sehen, dass der Westen aktiv noble islamistische Bemühungen unterdrückt eine gerechte Gesellschaft zu schaffen. Ein Islamist erklärt: Wo immer sich Muslime in Richtung auf die Schaffung eines islamischen Staates bewegen, "gibt es dort die verräterischen Hände des säkularen Westens in der muslimischen Welt, der die Niederlage der islamischen Kräfte bringen will."2 Islamisten betrachten sich selbst als vom Westen umzingelt und belagert. In der ganzen Welt fühlen sie sich von einem arroganten und imperialistischen Westen lahm gelegt.
Der Hass auf die USA
Islamisten sehen besonders die Vereinigten Staaten als aggressive Kraft, die den Muslimen ihre Ressourcen stehlen wollen, ihre Arbeitskraft ausbeuten und ihre Religion untergraben. Ein weiter Konsens besteht darüber, dass Washington und Hollywood sich zusammen getan haben um eine Hegemonie über die Welt zu errichten (die "neue Weltordnung"). Mit den Worten Ayatollah Khomeinis, des vielleicht einflussreichsten modernen Auslegers des Islam: "Die Gefahr, die von Amerika ausgeht, ist so groß, dass du, wenn du nur die kleinste Kleinigkeit übersiehst, zerstört werden wirst... Amerika plant, uns alle zu zerstören, uns alle."3 Mit den Worten eines Ägypters: Die Amerikaner "haben uns die Schlinge um den Hals gelegt."
Dieser Ausblick hat den entscheidenden Aspekt, dass Gewalt gegen Amerika seiner Natur nach als Verteidigung angesehen wird. Das rechtfertigt dann auch muslimische Versuche, Amerikaner zu schädigen oder sogar die USA zu zerstören. Ikrama Sabri, Yassir Arafats hat als Chef in der religiösen Hierarchie der Palästinensischen Autonomie in Jerusalem eine prestigeträchtige und einflussreiche Position inne. Er zieht oft in seinen Freitagspredigten in der Al Aksa-Moschee gegen die USA vom Leder. Zum Beispiel flehte er Allah 1997 mit seinem Lieblingsanliegen an: "O Allah, zerstöre Amerika, seine Agenten und seine Verbündeten!"4
Um Amerikaner zu entmenschlichen, stellen Fundamentalisten sie mit bestialischen Begriff dar - Parasiten, Hunde und Bakterien - und machen sie so zu Feinden, die es wert sind ausgerottet zu werden. Der Westler ist aus der Sicht von Adil Hussein, einem führenden Ägyptischen Schriftsteller, "nicht mehr als ein Tier, dessen Hauptsorge es ist, seinen Bauch zu füllen."5 Unmoralisch, verbrauchend und drohend hat es den Tod verdient. Auch die Verschwörungstheorien, die so viele nahöstliche religiöse Einrichtungen vertreten, entmenschlichen die Amerikaner und machen aus ihnen listige Komplott-Schmiede, die sich muslimisches Land, Wohlstand und Frauen unter den Nagel reißen.
Ein Ergebnis davon ist der Ausdruck von Entzücken, wenn man von amerikanischen Toten hört. Ahmad Jibril, ein Palästinenserführer, teilte seine Freude öffentlich mit, als er von den Toten des Erdbebens in San Francisco von 1989 hörte und fügte hinzu: "Ich weiß nicht, wie ich es geschafft hätte, an den USA Vergeltung zu üben, aber sieht so aus, als hätte Gott das für mich getan."6 Solch boshafte Ansichten werden auch von Muslimen geäußert, die in den USA leben: In einer Antwort auf die Nachricht eines US Air Force-Unfalls nicht viel später veröffentlichte Islam Report, eine Zeitschrift in San Diego, die Schlagzeile: "O Allah, lass sie in ihre eigenen Fallen gehen!"7
Diese Litanei an Aussagen zeigt auf zwei Fakten hin: Osama bin Laden ist nicht einzigartig, sonder spiegelt Ansichten wider, die von einigen der größten Autoritäten und einflussreichsten islamischen Würdenträger vertreten werden; und diese Standpunkte finden unter Muslimen in der ganzen Welt Widerhall, sogar unter einigen, die im Westen leben.
Dieser Zusammenhang hilft zu erklären, warum die muslimische Welt auf die Gräuel des 11. September so antwortete, wie sie es tat, noch bevor klar war, wer diese begangen hatte. Fast überall in der Welt war die erste Reaktion auf diese Nachrichten Trauer. Völker wie Regierungen antworteten mit Trauer, die von Herzen kam und mit einen Sinn gemeinsamer Menschlichkeit. Aber unter den Muslimen verursachte die Tötung tausender Amerikaner weniger ein Gefühl der Trauer als eines des Genusses.
"Voll ins Schwarze", kommentierte ein ägyptischer Taxifahrer, als er sich die Wiederholungen des Zusammenbruchs des World Trade Centers ansah. "Jetzt kriegen sie's zurück", sagte eine Frau in Kairo. Andere Ägypter drückten ihren Wunsch aus, George W. Bush hätte unter den Gebäuden begraben werden sollen oder jubelten, dass dies für sie der schönste Augenblick seit Jahrzehnten sei. Und so ging das durch den ganzen Nahen Osten. Im Libanon und der Westbank schossen Palästinenser mit Gewehren in die Luft - eine übliche Art seine Freude zu zeigen. "Wir sind hingerissen", sagte ein Libanese. In Jordanien verteilten Palästinenser Süßigkeiten, eine andere Art seine Freude auszudrücken.
Außerhalb des Nahen Ostens gaben viele Muslime ihrer Ansicht Ausdruck, dass die Amerikaner bekamen, was sie verdienten. Nigerianische Zeitungen berichteten, das die Islamische Jungenorganisation in der Provinz Zamfara anlässlich der Anschläge eine Feier organisierte. "Was immer Amerika an Zerstörung erlebt, als Muslim macht mich das glücklich", war ein typisches Zitat aus Afghanistan. Ein pakistanischer Führer sagte, dass Washington für seine Politik gegen die Palästinenser, den Irak, Bosnien und andere Muslime bezahlen muss und warnte dann: "Das Schlimmste kommt noch."
In den Wochen darauf konnte man in der gesamten muslimischen Welt fast identische antiamerikanische Sprechchöre hören: "USA, geh zur Hölle!" (Indonesien), "Fahr zur Hölle, Amerika" (Malaysia), "Tod Amerika" (Bangladesch und Indien), "Amerika ist Gottes Feind" (Oman), "Amerika ist der große Satan" (Jemen), "USA, fahr zu Hölle" (Ägypten), "Nieder mit den USA!" (Sudan).
Die meisten muslimischen Regierungen zeigten nach dem 11. September ihr bestes Benehmen und beweinten den Verlust amerikanischen Lebens. Aber auch hier gab es Brüche. Der offizielle Iran fand es z.B. schwer, den Amerikanern Mitleid entgegen zu bringen und bestand darauf, den arabisch-israelischen Konflikt in die Diskussion einzubringen. Einige Analysen verbinden den Terrorismus mit Amerikas "blinder Unterstützung für das zionistische Regime"; andere beschuldigten sogar Israel, die Anschläge organisiert zu haben, vorgeblich in dem Versuch die Weltmeinung von seinem eigenen Konflikt mit den Palästinensern abzulenken. (Das wurde mit der Zeit die anerkannte Wahrheit in vielen muslimischen Ländern und haben ausführlichen Verschwörungstheorien zur Rolle des Mossad.) Im Irak stimmen die staatlich kontrollierten Medien der Gewalt zu, was nicht überrascht. Sie kommentieren, dass "die amerikanischen Cowboys die Früchte ihrer Verbrechen gegen die Menschheit ernten." Sie verkündeten auch, dass der "Mythos Amerikas mitsamt dem World Trade Center zerstört wurde."
Liebe zu bin Laden
Schon vor dem 11. September genoss Osama bin Laden ein hohes Ansehen wegen seiner beharrlichen Feindschaft zu den USA. Sein Biograph, Simon Reeve, schrieb 1999, dass "viele, die ihn nie getroffen hatten, die Kontakt zu ihm nur durch eines seiner Interviews, eine Radiosendung oder eine Internetseite hatten, sich bereit erklärten, für seine Sache zu sterben."8 Der mächtige sudanesische Führer Hassan at-Turabi befand, dass bin Laden sich "zu einem Meister, einem Symbol des Islam für alle jungen Leute in der gesamten muslimischen Welt"9 entwickelt habe.
Als er als Hintermann der Anschläge vom 11. September auftauchte, schnellte sein Ansehen in der muslimischen Welt in außergewöhnliche Höhe. "Lang lebe bin Laden", schrieen fünftausend Demonstranten in den südlichen Philippinen. In Pakistan verkaufte sich Massen von Waren mit bin Ladens Gesicht und bei massiven Straßendemonstrationen gab es zwei Tote. Zehntausende marschierten in den Hauptstädten von Bangladesch und Indonesien. Im nördlichen Nigeria hatte bin Laden (nach Reuters-Meldungen) "Heiligenstatus gewonnen"10 und seine Partisanen lösten religiöse Straßenschlachten aus, die zu 200 Toten führten.11 Pro-bin Laden-Demonstrationen fanden sogar in Mekka statt, von wo offener politischer Aktivismus nicht bekannt ist.
Überall, berichtete die Washington Post, jubelten Muslime über bin Laden "praktisch einstimmig".12 Das Internet brummte mit Lobhymnen auf ihn als einen Mann "soliden Glaubens und Willenskraft".13 Ein Saudi erklärte, dass "Osama ein sehr, sehr, sehr, sehr guter Muslim" sei.14 Ein Kenianer fügte hinzu: "Jeder Muslim ist Osama bin Laden."15 "Osama ist keine Einzelperson, sondern ein Name eines Heiligen Krieges", stand auf einem Banner im Kaschmir.16 In der vielleicht außergewöhnlichsten Stellungnahme erklärte ein Pakistani, dass "bin Laden der Islam ist. Er repräsentiert den Islam."17 In Frankreich riefen muslimische Jugendliche bin Ladens Namen, als sie Steine auf Nichtmuslime warfen.
Die Palästinenser sind besonders auf ihn versessen. Nach Hussam Khadir, einem Mitglied von Arafats Fatah-Partei, ist "bin Laden nach Arafat die populärste Person in der Westbank und Gaza."18 Ein 10-jähriges Mädchen verkündete, sie liebe ihn wie einen Vater.19 Sie war damit nicht allein. "Jeder liebt in dieser Zeit Osama bin Laden. Er ist der gerechteste Mann der Welt", erklärte eine palästinensische Frau.20 Ein palästinensischer Polizist nannte ihn "den größten Mann der Welt ... unseren Messias", während er (widerstrebend) Schüler auseinander trieb, die einen Solidaritätsmarsch für den Saudis veranstalteten.21
Umfrage-Untersuchungen helfen, diese Gefühle zu verstehen. In der Palästinensischen Autonomie fand eine Umfrage der Bir Zeit-Universität heraus, dass 26 Prozent der Palästinenser der Meinung sind, dass die Anschläge vom 11. September in Übereinstimmung mit dem Islam stehen.22 Eine Gallup-Umfrage in Pakistan fand heraus, dass 24 Prozent dort zu demselben Schluss kommen.23 Sogar die, die die Anschläge vom 11. September als einen Terroranschlag betrachten (jeweils 64% der Palästinenser und der Pakistanis), zeigten Respekt für diese Akte politischer Herausforderung und technischem Können. "Natürlich regt uns auf, dass in New York so viele Menschen starben. Aber gleichzeitig staunen wir über das, was passierte", sagt eine junge Frau in Kairo.24 Eine Internet-Umfrage unter Indonesiern fand heraus, dass 50 Prozent bin Laden als einen "gerechten Kämpfer" und 35 Prozent als einen Terroristen betrachten.25 Etwas weiter gehend schätze ich, dass bin Laden in den ersten Wochen gefühlsbedingte die Unterstützung der Hälfte der muslimischen Welt hatte.
Mit Ausnahme einer von der Regierung verordneten anti-bin Laden-Demonstration in Pakistan und sehr wenigen prominenten islamischen Gelehrten verurteilte ihn im September oder Oktober 2001 kaum jemand öffentlich. Der einzige islamische Gelehrte in Ägypten, der die Selbstmord-Aktionen vom 11. September ungehemmt verurteilte, gab zu, dass er völlig isoliert ist.26 Darüber hinaus unterstützte nicht eine einzige muslimische Regierung öffentlich die amerikanische Bombardierung gegen ihn. Amerikanische Regierungsvertreter warteten vergeblich darauf, dass muslimische Politiker sich äußerten. "Es wäre nett, wenn einige politische Führungspersonen sich hinstellen und sagen würde, dass die Vorstellung absurd ist, die USA bekämpften den Islam", bemerkt ein US-Diplomat.27 Sie taten das nicht, weil dies zu tun bedeutet hätte, dem Lob für bin Laden entgegen zu wirken.
Aber dann fand ein bemerkenswerter Wandel statt.
Enttäuschung über bin Laden
Die US-Regierung begann ihr militärisches Vorgehen in Afghanistan am 7. Oktober. Einen Monat lang gab es keine sichtbaren Ergebnisse. Noch am Morgen des 9. November herrschten die Taliban über die Gebiete, die seit mehreren Jahren unter ihrer Kontrolle waren - rund 95 Prozent Afghanistans. Aber dann brach die Taliban-Herrschaft zusammen. Tage später kontrollierten sie nur noch 15 Prozent des Landes und am 7. Dezember hatten sie die Kontrolle über Kandahar, ihre letzte Stadt, verloren und flüchtete in die Berge und die Höhlen Afghanistans. Sie waren eine verbrachte Macht, abgelehnt von jubelnden Afghanen.
Die schnelle Wende des Glücks ergab sich zum großen Teil aus dem mächtigen Gebrauch der Luftwaffe der USA, aber auch aus der mangelnden Beharrlichkeit von Teilen der Taliban-Truppen. Überwältigt von der Kraft der Amerikaner wechselten viele auf die Seite der von den USA unterstützten Nordallianz. Nach einem Analysten belegen "die Desertationen, die sogar mitten in der Schlacht stattfanden, den raschen Zusammenbruch der ehemals regierenden Taliban-Miliz in ganz Afghanistan."28 Amerikanisches Muskelspiel und Willenskraft machten aus dem militanten Islam ein Projekt der Verlierer. Die Macht, die ihr Land regiert hatte, fiel vor ihren Augen auseinander und die Kämpfer der Taliban erkannten, dass sei auf der Verliererseite standen. Sie hatten nicht den Wunsch, mit unterzugehen und entschieden sich etwas dagegen zu tun.
Diese Bereitschaft, die Seite zu wechseln, passt in ein größeres Muster, das innerhalb von wenigen Tagen am 11. November deutlich wurde; Muslime in der ganzen Welt spürten den gleichen Machtwechsel weg vom militanten Islam und reagierten ähnlich.
Besonders deutlich wurde das in Pakistan, wo der Enthusiasmus für die Sache der Taliban im September und Oktober 2001 besonders hoch gewesen ist. Ein Bericht der Los Angeles Times begann mit einer Szene vom 8. Oktober in Quetta in der Nähe der Grenze zu Afghanistan - einen Tag, nachdem die Kämpfe begannen. Nachdem Demonstranten "Bilder des amerikanischen und des pakistanischen Präsidenten verbrannten, Autos in Brand steckten, die Polizeistation stürmten und Schaufenster einschlugen", wandten sich Unruhe stiftende religiöse Führer jeden Freitag an 10.000 Menschen im Ayub Stadion. Sie
trugen Rache im Bauch, Frevel im Herzen, ihre Wut kam mit einer solchen Flut an Worten, dass einige von ihnen heiser wurden. "Die Zeit wird kommen, in der die Köpfe der Amerikaner auf der einen Seite sind und unsere Gewehre auf der anderen!", schrie einer. "Bereitet euch auf den Jihad vor und ich versichere euch, dass der Erfolg uns gehören wird."
Als aber dann die amerikanischen Militärerfolge klar wurden, verloren die antiamerikanischen Eiferer die Nerven. In dem Station, das einen Monat vorher von 10.000 Menschen gefüllt wurde, verloren sich weniger als 500. "Ein einsames, verschrumpeltes Poster von Osama bin Laden baumelte in der ersten Reihe. Nachdem ein Trupp religiöser Führer etwas über Jihad (Heiligen Krieg) in die Mikrophone bellte, war die Menge, nachdem sie zwei Stunden in fast vollständiger Ruhe gesessen hatte, kaum noch in der Lage am Ende den Schrei Allahu akbar (Gott ist groß) heraus zu bringen." Im Swat-Tal wurden 10.000 bis 15.000 Mann von den Jihad-Rufen ergriffen und gingen, um gegen die USA in Afghanistan zu kämpfen; rund 20 Prozent von ihnen kamen nicht zurück. In einigen Fällen waren die Verluste weit höher: Ein Pakistani berichtete, dass 41 von 43 seiner Kameraden ihr Leben in Afghanistan verloren.29 Diese Verluste verursachten intensive Ablehnung gegenüber den militant-islamischen Führern, die sie - unvorbereitet und sogar unwillkommen - in den Krieg schickten, während sie selbst im Komfort ihrer heimatlichen Dörfer zurück blieben.
Die Pakistanis wendeten sich gegen die militant islamischen Gruppen, besonders jene, die die eifrigen Muslime ermutigt hatten nach Afghanistan zu fahren und den Taliban zu helfen. Tehrik Nifaz Shariat-e-Mohammedi hat z.B. zugegeben, dass zwei- bis dreitausend seiner Freiwilligen vermisst und vermutlich tot sind; der Führer der Organisation, Sufi Muhammad, fand sich von pakistanischen Beamten verhaftet im Gefängnis wieder, als er im November aus Afghanistan zurückkehrte. Es gibt weit verbreitet Wut ihm gegenüber. "Wir verfluchen Sufi Muhammad, weil er viele unschuldige Leben geopfert hat", sagt ein Stammes-Ältester. "Wegen ihm sind so viele Kinder Waisen und Frauen Witwen geworden."30 Weiter gefasst:
Die Kampfeslust, die zu Beginn des Krieges durch die Region fegte, ist weitgehend verpufft, nachdem tausende fremder freiwilliger Kämpfer - viele von ihnen Pakistanis -in Waffen-Visieren geblieben sind. ... In diesen Grenz-Gemeinden, wo die Mullahs immer mehr Gewicht hatten als die Regierung, gibt es eine sich vertiefende Ablehnung der religiösen Führer, die so viele junge Männer in den sicheren Tod riefen.31
Milde ausgedrückt: Das ist kaum die erwartete Reaktion auf die amerikanischen Luftwaffen-Einsätze in Afghanistan, von der viele Experten vorher sagten, sie würde die pakistanische Gesellschaft in Aufruhr versetzen und vielleicht sogar zum Sturz der Regierung durch die führen, die dem militanten Islam wohl gesonnen gegenüber stehen. Stattdessen führte eine überzeugende Demonstration amerikanischer Macht dazu, dass der militante Islam den Kopf ein- und sich zurückzog.
Ein ähnlicher Ablauf ist in den arabischsprachigen Ländern zu beobachten. Martin Indyk, früherer US-Botschafter in Israel, bemerkte, dass in der ersten Woche nach dem Beginn der US-Luftschläge am 7. Oktober, neun antiamerikanische Demonstrationen stattfanden. Die zweite Woche brachte drei solche, die dritte Woche eine, die vierte Woche zwei. "Dann - nichts", beobachtete Indyk. "Die arabische Straße ist ruhig."32 Das ist umso bemerkenswerter angesichts der gleichzeitig beträchtlichen Aufheizung des arabisch-israelischen Konflikts, vielleicht dem emotionalste Punkt des arabischen Lebens. Ein weit gereister Reporter kam zu einer ähnlichen Einschätzung:
Fast zwei Monate nach Beginn einer intensiven Militäraktion und zur Mitte des heiligen muslimischen Monats Ramadan scheint die arabische "Straße" (oder öffentliche Meinung) auf bin Ladens Aufruf zu antiwestlichen Aufständen in der gleichen Weise geantwortet zu haben, wie sie auf ähnliche Aufrufe islamischer Militanter, des irakischen Präsidenten Saddam Hussein und anderer reagierte - indem sie den (Fernseh-)Kanal wechselte und zur Tagesordnung über ging.33
Tatsächlich verschob sich die Stimmung genau entgegen der vorhergesagten Richtung. In Kuwait war z.B. die Gesetzgebung kurz davor, vor dem 11. September in Einklang mit den islamischen Forderungen und Strafen gebracht zu werden; die Wirklichkeit der Stärke der USA führte zu einem raschen Stimmungswandel. Das Wall Street Journal berichtete: "Amerikas schnelles Handeln nach den Terroranschlägen des 11. September und dies Szenen jubelnder Afghanen über die Abschaffung genau diese religiösen Beschränkungen, dämpften den Enthusiasmus" für solche Wechsel sehr schnell.34 Ein Führer von Kuwaits militant-islamischer Partei gab den Zusammenhang geradeheraus zu: "Die säkularen Menschen triumphieren jetzt. Sie haben das Gefühl, dass sie Macht bekommen... Jetzt wollen die säkularen Menschen alle islamischen Gesetze abschaffen, die in Kuwait oder Saudi Arabien gelten. Es gibt sogar Stimmen, die die Zulassung von Alkohol vertreten."
Auf gleiche Weise wandten sich die arabischen Medien von bin Laden ab, als er wie ein Verlierer auszusehen begann. Den Trend generalisierend, befand die Washington Post, dass "es den klaren Versuch gegeben hat, bin Laden religiös zu diskreditieren und seine kriminelle Neigungen, politischen Ziele und seine Ansprüche auf Frömmigkeit ins Licht zu rücken."35 Einige Analysten gingen tatsächlich so weit den Verdacht zu äußern, der Schaden, den bin Laden dem Islam zufügte, sei ein israelisches Komplott! "Wenn der Weltzionismus Milliarden von Dollars ausgab um das Bild des Islam zu besudeln, wird er damit nicht erreichen, was die Terroristen mit ihren Taten und Worten getan haben."36 Bin Laden war so tief gefallen, dass er jetzt nicht mehr als ein Werkzeug der behaupteten jüdischen Verschwörung war.
Dieses Verhaltensmuster kann in der gesamten muslimischen Welt gefunden werden, in Ländern wie Indonesien, Indien und Nigeria, wo die überreizten Leidenschaften des September schnell zu weit entfernten Erinnerungen wurden.
Die militärischen Erfolge der Amerikaner ermutigten die Behörden so sehr, dass sie endlich begannen zu handeln. Am stärksten konnte man das in Pakistan sehen. "Es hat in den letzten Wochen einen tief gehenden Wechsel in der Politik des religiösen Extremismus in Pakistan gegeben", berichtete die Los Angeles Times. Sie fuhr mit der Erklärung fort, dass die Regierung militant islamischen Gruppen jahrelang erlaubt hatte in fast vollständiger Freiheit zu agieren; als sie sah, in welche Richtung der Wind nun blies, begann sie "die Jihad-Organisationen an die Leine zu legen und ihre beherrschenden Einfluss auf das nationale Bildungs-, das politische und das soziale Wohlfahrtssystem zu überprüfen." Diese Prediger aus dem Swat-Tal fanden sich z.B. hinter Gittern wieder. Der bedeutendste Schritt erfolgte am 12. Januar 2002, als Präsident Pervez Musharraf den militanten Islam in einer großen Rede angriff ("Der Tag der Abrechnung ist gekommen. Wollen wir, dass Pakistan ein theokratischer Staat wird?"), von der ein Beobachter andeutete, dass sie "das Potential hat - das Potential - die Sorte von durchschlagendem Umbruch für die muslimische Welt zu sein, wie man ihn seit Anwar el-Sadats Besuch in Israel 1977 nicht mehr gesehen hat."37 Musharraf hielt Wort und seine Regierung schloss in der Woche nach seiner historischen Rede hunderte religiöser Büros und verhaftete mehr als zweitausend Personen. Militante islamische Gruppen äußerten große Unzufriedenheit mit diesen Schritten, taten aber fast nichts, um sie zu behindern ("Wir können nicht gegen unseren eigenen Staat kämpfen, wir können nur auf bessere Zeiten warten").38
Dieses Muster wurde in anderen Ländern kopiert. Der eigentliche Herrscher Saudi Arabiens warnte religiöse Führer, dass sie in ihren Äußerungen vorsichtig sein und verantwortungsbewusst sein sollten ("wägt jedes Wort gut ab, bevor ihr es aussprecht")39, nachdem er sah, dass Washington es ernst meinte. Ähnlich ging die ägyptische Regierung aggressiver gegen ihre militant islamischen Element vor. Im Jemen griff die Regierung hart gegen islamistische Ausländer durch, die ins Land kamen. In der gleichen Weise verbot die Regierung in China den Verkauf von Abzeichen, die Osama bin Laden feierten ("Ich bin bin Laden. Warum sollte ich mich fürchten?")40 erst nachdem die US-Siege begannen. Ironischerweise konnte man dieselbe Stärkung der Entschlusskraft in den Vereinigten Staaten selbst beobachten; nachdem die Holy Land Foundation, eine islamische "Wohlfahrts"-Stiftung, seit 1993 unter Beobachtung stand, schlossen die Bundesbehörden sie erst im Dezember 2001, als sie das Vertrauen hatten, das ihrer eigenen, erfolgreichen militärischen Kampagne entsprang.
9. September gegen 11. November
Die Ereignisse während der kurzen, dreimonatigen Phase nach dem 11. September senden eine mächtige und unzweideutige Botschaft über das Schicksal des militanten Islam und die Anwendung von Macht.
Wenn der militante Islam am 11.9. seinen Höhepunkt erreichte, dann könnte der 9.11. der Zeitpunkt sein, an dem der Niedergang der Bewegung begann. Das erste Datum markierte die Spitze des militanten Islam, den Tag seines größten Erfolgs in der Erniedrigung des Westens, an dem er Tod und Panik verursachte. Das zweite Datum, als die Taliban ihre erste große Stadt verloren, markiert einen offensichtlichen Wendepunkt, an dem der Westen seine Entschlossenheit und seine Stärke zeigt, sich mit seinem neuen Hauptfeind auseinander zu setzen.
Der deutliche Unterschied zwischen diesen beiden Daten hat mehrere Konsequenzen für das Verständnis der muslimischen Welt. Erstens ist die öffentliche Meinung in der muslimischen Welt unbeständig und antwortet auf Entwicklungen der Ereignisse in einer emotionalen, oberflächlich und veränderbaren Art. Zweitens ist, wie die Los Angeles Times bemerkt, "die Unterstützung des Volkes für den militanten Islam nicht annähernd so breit wie man einmal glaubte."41 Die Bewegung ist laut und sie ist lärmend, aber sie bringt nicht mehr als eine kleine Minderheit der muslimischen Welt dazu sie aktiv zu unterstützen. Drittens ist der militante Islam ein bisschen ein Papiertiger - wild, wenn er ohne Opposition ist, aber sehr einfach einzuschüchtern. Viertens hat die sogenannte Straße wenig Auswirkungen auf die Entwicklungen. Sie erhebt sich mit viel Lärm, aber ohne viele Konsequenzen, ist nicht in der Lage Regierungen zu zwingen, die von ihr gewünschten Handlungen durchzuführen. Sie stirbt ab, wenn es ihrer Lieblingssache schlecht ergeht.
Es darf aber nicht verschwiegen werden, dass viel Wut weiterhin gegen die USA gerichtet ist ("Der Jihad wird bis zum Jüngsten Tag fortgeführt oder bis Amerika besiegt ist, egal was von beidem")42 oder dass bin Laden in einigen Kreisen seine Anziehungskraft behält (ein Afghane: "für mich ist er ein Gott").43 Das soll nur heißen, dass amerikanische Kraft und Entschlossenheit nicht dazu führen es unwahrscheinlich zu machen, dass diese Gefühle wieder zu Aktionen führen.
Folgerungen für die US-Politik
Seit zwei Jahrzehnten - seit Ayatollah Khomeini 1979 im Iran mit dem Schlachtruf "Tod für Amerika" an die Macht kam - wurden US-Botschaften, Flugzeuge, Schiffe und Kasernen angegriffen, was zu hunderten toten Amerikanern führte. Diese Anschläge fanden rund um die Welt statt, besonders im Nahen Osten und Europa, aber auch in den USA selbst. Angesichts dieser anhaltenden Angriffe gab es aus Washington kaum eine Antwort. Die Politik dieser Jahre war es, die Anschläge als lediglich eine Serie einzelner krimineller Vorfälle zu betrachten und nicht als Teil eines andauernden militärischen Angriffs auf das Land. Dieser Ansatz hat verschiedene Konsequenzen. Er bedeutete:
- Konzentration auf die Verhaftung und die Verhandlung der entbehrlichen Figuren, die die gewalttätigen Akte ausführten, was die Geldgeber, Planer, Organisateure und Kommandeure des Terrorismus unangetastet ließ, damit sie weitere Anschläge vorbereiten konnten.
- Man verließ sich hautsächlich auf solche Verteidigungsmaßnahmen wie Metalldetektoren, Sicherheitsleute, Bunker, Verhaftungen durch die Polizei und strafrechtliche Redegewandtheit - statt auf offensive Werkzeuge wie Soldaten, Flugzeuge und Schiffe.
- Betrachtung der Motivation der Terroristen als kriminell, wobei man die beteiligten extremistischen Ideologien ignorierte.
- Ignorierung der Tatsache, dass Terroristengruppen (und der Staaten, die sie unterstützen) den Vereinigten Staaten den Krieg erklärt haben (manchmal sogar öffentlich).
- Es wurde gefordert, dass die US-Regierung Beweise vorlegen kann, die der Verhandlung in einem US-Gericht stand halten, bevor Militär aufmarschieren darf; damit wurde sicher gestellt, dass in der Mehrzahl der Fälle eine begrenzte Antwort auf die Tötung von Amerikanern erfolgte.
Als die Muslime zusahen, wie der militante Islam auf Amerikaner und amerikanische Interessen eindrosch, konnten sie nur zu dem Schluss gelangen, dass die USA - all ihren Möglichkeiten - müde und weich waren. Sie kannten die Natur der Demokratie nicht - dass es lange dauert, bis sie aufgerüttelt ist, aber schonungslos, wenn sie verärgert wird; sie bewunderten die Verwegenheit des militanten Islam und seine Fähigkeit, mit den Anschlägen davon zu kommen. Diese Ehrfurcht gipfelte in den Nachwirkungen des 11. September, als Osama bin Laden und die Taliban-Führer offen zu nicht weniger als der "Vernichtung Amerikas" aufriefen.44 Zu dieser Zeit schien das nicht unmöglich.
Diese ambitionierten Forderungen werfen ein Licht auf die Ziele der Anschläge des 11. September. Obwohl man sich seines Sinns nicht sicher sein kann, macht es Sinn, dass sie darauf abzielten, die USA zu schwächen. Nach den Einschätzungen der vorherigen Erfolge des militanten Islam muss Al Qaida gedacht haben, sie würde bei diesen Anschlag mit nicht mehr davon kommen als den üblichen Kriminal-Untersuchungen. Angesichts der nicht vorhandenen amerikanischen Bereitschaft Verluste zu verarbeiten und des Schäden, die die in Afghanistan stationierten Islamisten der Sowjetunion mehr als ein Jahrzehnt früher zugefügt hatten, dachte Al Qaida vielleicht weiterhin, dass seine Schläge die amerikanische Bevölkerung demoralisieren und zu zivilen Unruhen führen würden, vielleicht sogar dazu, dass eine beginnenden Serie von Ereignissen schließlich zum Zusammenbruch der US-Regierung führt. Wenn sie so dachten, rechneten sie wahrscheinlich damit, dass die amerikanische Polizei Regierungsgebäude beschützen würde, statt die Al Qaida-Hintermänner zu verfolgen.
Wie sollten bin Laden und seine Kollegen wissen, dass ihre Taten zu einem aufrüttelnden Ruf zu den Waffen führen würde? Warum sollten 240 Tote in einer Beiruter Kaserne zu keiner Vergeltung führen und etwas mehr als dreitausend Tote an der Ostküste das Land in einer Art mobilisieren, wie sie seit Pearl Harbor nicht mehr zu sehen war? Man kann ihnen kaum einen Vorwurf machen, dass sie diese Veränderung nicht vorher sahen. Es hat etwas mit den geheimnisvollen Kräften der Demokratie und der öffentlichen Meinung zu tun, die sie so sehr ignorierten.
Noch weniger konnten sie verstanden haben, dass am 11. September ein Paradigmenwechsel statt fand, durch den der Terrorismus den Bereich der Kriminalität verließ und den der Kriegsführung betrat. Dieser Wechsel hat viele Folgen. Er bedeutete, dass nicht länger nur die Fußtruppen verfolgt wurden, die die Gewalt ausübten, sondern die Organisationen und Regierungen, die hinter ihnen standen. Er bedeutete, dass man sich auf die Streitkräfte verlässt, nicht die Polizei. Er bedeutete, dass man sich in Übersee verteidigt statt in amerikanischen Gerichtssälen. Er bedeutete, dass die Organisationen und Regierungen, die Terrorismus sponsern, einen Preis bezahlen würden, nicht nur die Fußtruppen, die ihn ausführen. Er bedeutete, dass auf die unrealistisch hohen Erwartungen an Beweise verzichtet wird, so dass, wenn eine vernünftige Beweislage darauf hin deutet, dass ein Regime oder eine Organisation Amerikanern Schaden zufügte, US-Militär eingesetzt werden kann. Er bedeutete, dass das Militär so eingesetzt werden kann, dass die Bestrafung in keinem Verhältnis mehr zum Anschlag steht. Er bedeutete auch, dass, wie in einem konventionellen Krieg, Amerikas Militär die Namen und besonderen Aktivitäten der feindlichen Soldaten kennen muss, bevor es sie bekämpft. Es ist nicht nötig, die genaue Identität eines Täters zu kennen; im Krieg gibt es Zeiten, in denen man erst zuschlägt und die Fragen später stellt.
Es könnte geheimnisvoll erscheinen, dass die militärische Variante nicht früher übernommen wurde, wo sie doch so offensichtlich weitaus angemessener war als die kriminalistische. Tatsache ist aber, dass sie auch den Amerikanern viel mehr abverlangt und eine Bereitschaft fordert, über einen langen Zeitraum mehr Geld auszugeben und Leben zu verlieren. Militärische Macht funktioniert nur als Teil einer fortwährenden Politik, nicht als Einmal-Maßnahme. Ein paar Bomben zu werfen (wie das gegen das libysche Regime 1986 und gegen Orte in Afghanistan und im Sudan 1998 getan wurde) kann keine ernsthafte Politik sein. Den militärischen Weg zu gehen bedarf einer langfristigen Verbindlichkeit, die über viele Jahre hinweg den Amerikanern viel abverlangt.
Das Muster ist klar: So lange, wie die Amerikaner sich passiv den mörderischen Angriffen des militanten Islam aussetzte, gewann diese Bewegung Unterstützung unter den Muslimen. Als die Amerikaner schließlich die Waffen in die Hand nahmen, um den militanten Islam zu bekämpfen, wurden seine Streitkräfte überwältigt und seine Anziehungskraft nahm rapide ab. Mit anderen Worten: Der Sieg auf dem Schlachtfeld hat nicht nur die offensichtlichen Vorteil, die USA zu schützen, sondern auch den wichtigen Nebeneffekt, das antiamerikanische Geschwür aufzustechen, das diese Anschläge überhaupt erst ausbrütete.
Die Bedeutung ist klar: Es gibt keinen Ersatz für Sieg. Wenn die US-Regierung ihren strategischen Feind, den militanten Islam, zu schwächen wünscht, muss sie zwei Schritte unternehmen: erstens den Krieg gegen den Terror global weiter führen und dabei die angemessenen Maßnahmen ergreifen; das fängt in Afghanistan an, muss aber weiter gehen, wo immer der militante Islam eine Gefahr darstellt - in mehrheitlich muslimischen Ländern (wie Saudi Arabien), in Ländern mit einer muslimischen Minderheit (wie den Philippinen) und sogar in den USA selbst. Wenn diese Anstrengung Erfolg bringt, muss Washington zweitens moderate Muslime fördern. Sie werden nicht nur einen gesunden Wechsel vom Totalitarismus des militanten Islam darstellen, sondern sie, und sie allein, können das Trauma des Islam angehen und Ideen voran bringen, die für ein Sechstel der Menschheit den Weg in die Moderne erleichtert.
Ironischerweise werden die Muslime, die die Wirkung des 11. September nicht so heftig spürten wie die Menschen im Westen, langfristig diejenigen sein, die weitaus stärker von ihm betroffen sein werden.
Fußnoten:
1 Martin Kramer: "Islam's Sober Millennium", 31.12. 1999.
2 Shamim A. Siddiqi: Methodology of Dawah Ilallah in American Perspective (Brooklyn, N.Y.: The Forum for Islamic Work, 1989), S. ix-x.
3 Imam Khomeini, Islam and Revolution, übers. von Hamid Algar, (Berkeley, Calif.: Mizan Press, 1981), S. 286, 306.
4 Voice of Palestine, am 12.09.1997.#1e
5 Ash-Sha'b (Cairo), 22.07.1994. #101
6 The Sunday Independent, 26.11.1989. #37
7 Quoted in Steven Emerson, "The Other Fundamentalists," The New Republic, 12.06. 1995, S. 30.
8 Simon Reeve, The New Jackals: Ramzi Yousef, Osama bin Laden, and the Future of Terrorism (Boston: Northeastern University Press, 1999), S. 203.
9 Quoted in Reeve, The New Jackals, S. 213.
10 Reuters, 19.10.2001.
11 Reuters, 14.10.2001,
12 The Washington Post, 9.10.2001.
13 Reuters, 8.10.2001.
14 Time, 15.10.2001.
15 The New York Times<, 13.10.2001.
16 Reuters, 11.10.2001.
17 The New York Times, 30.09.2001
18 The Boston Globe, 10.10.2001.
19 The Independent, 11.10.2001.
20 The Guardian, 9.10.2001.
21 The Independent, 11.10.2001.
22 IRI, 11.10.2001.
23 Newsweek, 14.10.2001.
24 The Washington Post, 9.10.2001.
25 Reuters, 17.?10.2001. http://straitstimes.asia1.com.sg/asia/story/0,1870,77031,00.html
26 Newsweek, 15.10.2001.
27 The Washington Post, 9.10.2001.
28 Associated Press, 17.11.2001.
29 The New York Times, 27.01.2002.
30 Associated Press, 11.12.2001.
31 Los Angeles Times, 3, 10.12.2001.
32 Newhouse News Service, 16.11.2001.
33 Howard Schneider, "Arab 'Street' Unmoved by News," The Washington Post, 30.11.2001.
34 31.12.2001.
35 The Washington Post, 23.11.2001.
36 Nabil Luka Bibawi in Al-Ahram, zitiert in: The Washington Post, 23.11.2001.
37 Thomas L. Friedman, "Pakistan's Constitution Avenue," The New York Times, 20.01.2002.
38 Reuters, 18.01.2002.
39 Arab News, 15.11.2001.
40 Associated Press, 17.11.2001, Zitat aus Beijing Youth Daily.
41 Los Angeles Times, 3, 10.12.2001.
42 The New York Times, 27.01.2002.
43 The Times (London), 19.01.2002.
44 Associated Press, 15.11.2001.