Islam und Islamismus sind streng zu unterteilen, weil letzterer eine moderne politische Erscheinung ähnlich der des Faschismus ist, sagt der amerikanische Islamwissenschaftler Daniel Pipes, einer der bekanntesten amerikanischen Islamwissenschaftler. Er leitet mehrere Forschungsinstitute und war Berater verschiedener republikanischer Politiker. Für Citizen Times sprach Felix Struening mit ihm über diese Unterscheidung, Reform-Muslime, Integrationsprobleme in Europa und die Vorurteile der Deutschen gegenüber Muslimen.
Citizen Times: Herr Pipes, Sie betonen immer den Unterschied zwischen Islam und Islamismus. Warum ist der so wichtig?
Daniel Pipes: Ich denke es ist falsch, alles am Islam als Islamismus zu sehen. Der Islamismus ist eine Bewegung innerhalb des Islams, zurzeit allerdings eine sehr machtvolle. Menschen, die jetzt beginnen, sich mit dem Islam zu beschäftigen denken oft, der Islamismus ist alles. Aber als jemand, der sich mit dem Thema seit über 40 Jahren beschäftigt – und damals gab es fast gar keinen Islamismus –, habe ich eine andere Perspektive. Viele Muslime hassen den Islamismus und es wäre ein großer Fehler zu behaupten, alle Muslime seien Islamisten oder dass alle Muslime denken, nur unter islamischem Recht seien Macht, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit erreichbar.
Citizen Times: Aber was genau ist Islamismus? Eine traditionelle Auslegung, Terrorismus á la al-Qaida oder die politische Ideologie der Muslimbruderschaft?
Daniel Pipes: Die Muslimbruderschaft ist die wichtigste islamistische Organisation überhaupt. Der Ägypter Hassan al-Banna modernisierte islamische Ideen in den 1920er Jahren und passte sie an die Art, wie wir heute leben, an. Er und auch viele andere veränderten den traditionellen Islam in eine Ideologie. Die 1920er Jahre waren eine Zeit, in der der Totalitarismus als der zukunftsfähige Weg in Deutschland, Russland und besonders Italien galt. Al-Banna nahm grundlegende totalitäre Ideen und passte sie an den Islam an. Er fügte islamische Inhalte in totalitäre Strukturen. Islamismus ist also eine moderne Erscheinung, so wie Faschismus und Kommunismus moderne Erscheinungen sind.
Citizen Times: Aber warum ist die Verbindung von Islam und Totalitarismus so erfolgreich?
Daniel Pipes: Für einige Jahrzehnte war der Islamismus nicht so erfolgreich. Es bedurfte einer Menge Arbeit von vielen Menschen für eine sehr lange Zeit. Aber der Islamismus traf den Nerv der Zeit. Denn die große Herausforderung für Muslime heute ist es, zu erklären, warum sie, die laut Koran die wohlhabendsten und mächtigsten sein sollten, die ärmsten und am wenigsten einflussreichen sind. Ab den 1970er Jahren bot der Islamismus die passende Antwort. Er sagte, wer erfolgreich sein wolle, müsse streng nach dem islamischen Recht leben und es verbreiten.
Citizen Times: Faschismus und Kommunismus wurden mit Kriegen beendet. Können wir das auch mit dem Islamismus machen?
Daniel Pipes: Ja. Der Zweite Weltkrieg beendete den Faschismus als eine Gefahr für die Welt, er ist seit dem kein wirkliches Problem mehr. Der Kalte Krieg beendete den Kommunismus endgültig. Und die islamistische Herausforderung muss ähnlich bekämpft werden. 1945 waren es Blut und Stahl. 1991 waren es sehr komplexe Faktoren, letzten Endes aber nicht gewalttätig. Dieses sind sozusagen die beiden Gegensätze, zwischen totaler Gewalt und fast friedlicher Revolution. Und irgendwo dazwischen liegt der Weg zum Sieg über den Islamismus.
Citizen Times: Was heißt das konkret? Müssen wir Krieg im Irak oder Afghanistan kämpfen, um denen die Demokratie zu bringen?
Daniel Pipes: Ironischer Weise stärkt Demokratie den Islamismus derzeit. Allgemein müssen wir Demokratie verbreiten, aber ganz, ganz langsam. Ich stimmte George W. Bush 2003 in seinem Politikwechsel zu. Aber ich warnte ihn auch davor, unvorsichtig zu sein. Er war es trotzdem und erntete viele Probleme deswegen.
Der Weg, den Islamismus zu bekämpfen beinhaltet alles zwischen dem Bombenabwurf und Propaganda über Radios, vom heißen Krieg zum kulturellen Kampf. Wir sollten Wirtschaft, Diplomatie, und alles andere dafür nutzen.
Kriege werden nicht mehr nur auf dem Schlachtfeld ausgetragen, sondern auch durch Prinzipien und Ideen. Unglücklicher Weise wird im Augenblick zu sehr auf die Gewalt fokussiert, insbesondere terroristische. Die Menschen reduzieren das ganze Problem auf den Krieg gegen den Terror. Natürlich ist der Terrorismus ein Teil des Problems, aber eben nicht alles.
Citizen Times: Aber beinhaltet Islamismus nicht zwangsläufig Terrorismus?
Daniel Pipes: Keinesfalls. Man sieht sogar, dass die Islamisten viel mehr Erfolg haben, wenn sie nicht-gewalttätige Mittel nutzen. Recep Tayyip Erdogan in der Türkei und die islamistischen Organisationen im Westen haben mehr Erfolg als Khomeini oder al-Qaida. Indem sie innerhalb des politischen Systems, der Schulen, der Medien und der Gerichte arbeiten, erreichen sie mehr als die Terroristen, wenn sie etwas hochjagen. Ich beobachte mit Faszination und Horror, wie schnell dieser Prozess im Westen und insbesondere in England passiert. Die Türkei und England sind mit Sicherheit die beiden Staaten, die man genau beobachten sollte.
Sollte der Iran nicht an Atomwaffen kommen, ist die Türkei die größere Bedrohung in langfristiger Hinsicht, sagen wir in 20 bis 30 Jahren. Der Iran wird nicht solch ein Problem sein, weil die Iraner selbst gegen den Islamismus aufbegehren. In der Türkei aber arbeiten sich die Islamisten innerhalb des Systems nach oben. Dennoch: Von dort sehen wir keine Terroristen kommen.
Citizen Times: Aber wie können wir diesen Kampf der Ideen gewinnen? Wir zeigen den muslimischen Migranten jeden Tag unser freies Leben, aber sie scheinen sich immer mehr abzukapseln.
Daniel Pipes: Ich denke, es bedarf zweier Schritte, um diesen Krieg zu gewinnen. Erstens müssen wir Nicht-Muslime alle unsere verfügbaren Mittel einsetzen. Zweitens müssen die Muslime selbst eine Alternative zum Islamismus anbieten. Man braucht einen Adenauer, einen Jelzin, die etwas Besseres anbieten. Das sind keine perfekten Analogien, aber sie vermitteln eine Idee davon, was ich meine. Es reicht nicht, totalitäre Regime zu schlagen, irgendwer muss auch eine alternative Vision anbieten. Hier spielen die Reform-Muslime eine ausschlaggebende Rolle. Sie beginnen gerade erst mit ihrer Arbeit. Und es wird lange dauern, bis sie ein vollständiges Programm anbieten können. Daher ist es absolut dringend, dass sie von der äußeren Welt Hilfe und Ermutigung erhalten.
Citizen Times: Sie widersprechen also Ayaan Hirsi Ali, die die Reform-Muslime ablehnt, weil sie denkt, dass diese alles vermischen und so die Dinge noch schlimmer machen?
Daniel Pipes: Ich habe großen Respekt vor ihr, aber ich bin gerade in diesem Punkt auch anderer Meinung. Wir brauchen ein politisches Programm, um den Islam in unsere Richtung zu lenken. Den Islamismus zu verketzern reicht nicht aus, wir brauchen ein Programm um ihn zu schlagen, einen Weg, der uns zum Sieg führt. Islamkritiker wie Ayaan Hirsi Ali bieten ein solches Programm nicht an.
Alle Religionen, auch der Islam, haben eine Geschichte, was bedeutet, dass sie sich mit der Zeit verändern. Ich habe das während meiner eigenen Karriere beobachtet: Es gab fast keinen Islamismus als ich in den späten 1960er Jahren zu den Islamwissenschaften kam. Heute dominiert der Islamismus. Wenn er anwachsen kann, muss er auch abnehmen können. Ayaan Hirsi Ali denkt hingegen, der Islam ist statisch und verändert sich nie.
Citizen Times: Aber Ayyan Hirsi Ali würde sagen, ihr Programm sei Bildung. Bildung über den säkularen Staat und die Werte des Humanismus. Ist das nicht ein passendes Programm?
Daniel Pipes: Zwei Punkte: Erstens wiederholt sie zumindest teilweise, was auch ich über einen möglichen Reform-Islam sage. Muslimen Humanismus beizubringen, heißt ja nichts anderes, als den Islam zu reformieren. Übrigens war genau das die Situation im sogenannten "liberalen Zeitalter" des Islams von 1800 bis 1940.
Zweitens muss man sagen, dass die islamistische Idee selbst so machtvoll ist, dass westliche, säkulare Erziehung einfach keinen Erfolg hat. Wir können dies in Europa sehen, wo die öffentlichen Schulen Säkularismus unterrichten aber es im Großen und Ganzen nicht schaffen, muslimische Schüler und Studenten zu überzeugen, weil diese denken, einer übergeordneten Idee, einer höherwertigen Kultur anzugehören. Man kann den Islamismus nicht mit säkularen, humanistischen Ideen aus Europa bekämpfen. Nur etwas von innerhalb des Islams kann ihn besiegen, muslimische Ideen müssen mit denen anderer Muslime um das bessere Argument ringen. Es ist ein interner muslimischer Bürgerkrieg, nur dass die eine Seite noch kaum über Truppen verfügt und der Kampf so noch sehr ungleichgewichtig ist.
Muslime haben dieselben Rechte und Pflichten wie jeder andere auch. Sie haben aber keine besonderen Rechte. Ich will, dass sie ganz normale Bürger sind, weder besser noch schlechter gestellt. Wir haben eine gesetzgebende Gewalt, weil die Dinge sich nun einmal ändern. Man kann nicht dieselben Gesetze für immer haben. Ich bin gerne bereit, mich an Muslime und den Islam auf sinnvolle Weise anzupassen. Aber ich bin auf keinen Fall bereit, unsere Gesellschaft grundlegend zu ändern. Wenn Muslime in den Westen kommen, müssen sie den westlichen Lebensstil akzeptieren. Sie können um sinnvolle Anpassungen innerhalb des Systems bitten, aber sie können das System selbst nicht ändern. Islamisten versuchen das System zu ändern. Hier müssen wir sie zurückdrängen und Nein sagen, ein absolutes Nein.
The Citizen Times: Muslime in Europa sind statistisch gesehen häufiger kriminell als die Mehrheitsbevölkerung, sie sind öfter arbeitslos und abhängig vom Wohlfahrtsstaat.
Daniel Pipes: Missstände gibt es reichlich unter den Muslimen in Europa: Armut, Arbeitslosigkeit, Gewaltverbrechen, Drogenhandel usw. Und ja, die Muslime sind teilweise verantwortlich für diese vielfältigen Probleme, aber, offen gesagt sind die Europäer auch daran schuld. Europäer sind oft nicht bereit, Muslime anzustellen und diese als gleichberechtigt zu behandeln. Günter Wallraff, ein deutscher Reporter, gab 1985 vor ein Türke zu sein und führte so die Schwierigkeiten, denen die Gastarbeiter unterworfen waren, öffentlich vor. Ich will nicht in die Lage kommen, mit dem Namen Mohammed in Deutschland einen Job suchen zu müssen.
Citizen Times: Was diese Arbeitssuche mit einem typisch muslimischen Namen angeht: Haben denn die Deutschen die Muslime immer fremdenfeindlich zurückgewiesen oder ist es nicht eher so, dass viele Muslime nicht anstellen wollen, weil bei denen so häufig Probleme auftreten?
Daniel Pipes: Beides. Die Situation resultiert aus Vorurteilen und aus dem Verhalten von Muslimen. Man kann die USA als Gegenbeispiel nehmen, wo soziale Missstände unter Muslimen kaum existieren. Die Vereinigten Staaten haben natürlich Probleme mit Extremisten und Terroristen, aber kein generelles "Moslem-Problem". Es haben sich keine Gegenden mit muslimischer Bevölkerungskonzentration herausgebildet, bis auf vielleicht ein oder zwei Ausnahmen und die sind kaum problematisch. Amerikaner sind viel eher bereit, Muslime zu akzeptieren und anzustellen. Außerdem macht der schmale Sozialstaat in den USA Muslime weniger abhängig von staatlichen Transferleistungen und dafür gründungsfreudiger. Die Kombination von Vorurteilen und Wohlfahrtsstaat erklärt viel über das Dilemma der Muslime in Europa.
Citizen Times: Der amerikanische Journalist Christopher Caldwell schrieb in seinem Buch "On the Revolution in Europe", dass die muslimische Migration Europa von seinen Wurzeln her ändern wird. Stimmt das?
Daniel Pipes: Da stimme ich zu. Ich glaube, Europa ist mit vielen Problemen und trostlosen Situationen konfrontiert. Ich sehe dabei zwei wahrscheinliche Varianten. Eine wird mit dem Wort Eurabia bezeichnet, was die Steigerung der Trends der letzten 55 Jahre bedeutet: mehr Muslime, mehr Islam, mehr Scharia und mehr Islamisierung. Das Symbol dafür ist eine Mosche Notre Dame in Paris. Die andere Variante beinhaltet den Widerstand gegen eine drohende Islamisierung, deutlich sichtbar an dem Entstehen der neuen deutschen Partei DIE FREIHEIT.
Derzeit verzeichnet der letzte Trend ein größeres Wachstum. Wenn man in einem Diagramm die Kurve von Muslimen und Islam seit 1955 zeichnet, dann wächst sie beständig. Aber wenn man die Kurve antiislamischer Bewegungen seit 1990 betrachtet, dann wächst sie viel schneller. Überall wo man hinschaut, nehmen antiislamische Gefühle zu.
Ich mache mir in beiden Fällen Sorgen. Ich will kein Eurabia, aber ich fürchte auch, dass antiislamische Vorurteile zu Populismus, Faschismus, Bürgeraufständen und Gewalt führen. Die verbreitete Abneigung politischer Führungskräfte, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, macht die Dinge nur noch schlimmer.