Daniel Pipes ist Historiker und politischer Publizist. Er ist der Gründer und Direktor des Middle East Forum und von Campus Watch. Seine Kolumnen erscheinen unter anderem in der Washington Times und Israel Hayom. Die Achse des Guten sprach mit ihm über Europa, die Zuwanderung und Angela Merkels Politik.
Herr Pipes, Sie schreiben, zukünftige Historiker würden die Entscheidung Angela Merkels im Jahr 2015, die deutsche Grenze für Flüchtlinge zu öffnen, "vermutlich als Wendepunkt in der europäischen Geschichte" betrachten. Sie sind selbst Historiker. Was bringt Sie zu dieser Einschätzung?
Die Entscheidung, unbegrenzte Einwanderung nach Deutschland zuzulassen, hat profunde Folgen für Europa: Die Einwanderung erzeugt Spaltungen sowohl zwischen einheimischen Europäern, die für und gegen Masseneinwanderung sind, sowie zwischen einheimischen und neuen Europäern. Die Europäer müssen sie sich die Frage stellen: Werden sie weiterhin passiv jeden akzeptieren, der ihre Grenzen übertritt, oder werden sie einen Plan für gesteuerte Einwanderung entwickeln und Menschen weltweit nach passenden Fähigkeiten und Integrationsaussichten auswählen? Indem Deutschland die Grenzen geöffnet hat, hat es sich für die erste Option entschieden.
Sie kritisieren, dass es mehrheitlich Muslime sind, die nach Europa strömen. Warum spielt die Religion der Flüchtlinge und Migranten in Ihren Augen eine so große Rolle?
Beim Islam handelt es sich um einen imperialistischen Glauben, und viele muslimische Einwanderer wollen die existierende europäische Zivilisation mit einer islamischen ersetzen. Verschärft wird die Lage dadurch, dass Europäer und Muslime sich in mehreren Punkten stark unterscheiden: Europäer haben eine niedrige Geburtenrate, Muslime eine hohe. Europäer haben eine schwache religiöse Identität, Muslime eine starke. Europäer fühlen sich schuldig wegen ihrer historischen Untaten; viele muslimische Einwanderer sind von der Überlegenheit ihrer Zivilisation überzeugt.
Viele Deutsche argumentieren, als reiche Nation seien sie moralisch verpflichtet, ihre Türen für Menschen in Not zu öffnen.
Ich bewundere diesen humanitären Impuls, aber er ist nicht realistisch. Kann Deutschland, sagen wir, zwei Milliarden Menschen aufnehmen? Wenn nicht: Wie kann es auf moralische Weise den kleinen Prozentsatz von Menschen auswählen, die es aufnimmt?
Was ist die Alternative? Soll Deutschland syrische Flüchtlinge zurück ins Kriegsgebiet schicken?
Stellen Sie sich zu praktischen Zwecken die Welt aufgeteilt in kulturelle und geografische Zonen vor: Menschen aus dem Westen, die in Not sind, sollten im Westen bleiben, Menschen aus dem Nahen Osten sollten in Länder des Nahen Ostens flüchten und so weiter. Ist es nicht seltsam, dass Migranten aus Syrien und dem Irak nach Deutschland und Schweden ziehen? In Saudi-Arabien und Kuwait, wo sie mit Klima, Sprache und Religion vertraut sind, würde es ihnen besser ergehen. Außerdem liegen diese Länder viel näher an Syrien.
Kulturen und Einstellungen können sich wandeln. Warum sollten Muslime sich nicht in Europa einleben, wenn wir ihnen die Chance dazu geben?
Theoretisch spricht nichts dagegen. In der Praxis funktioniert es nicht. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die erste Generation muslimischer Einwanderer in Europa sich stärker anpasst als ihre Kinder und Enkelkinder. Es ist schwer, in Europa einen Ort zu finden, an dem Muslime sich erfolgreich assimiliert haben. Deshalb hege ich starke Zweifel, dass dies in der Zukunft gelingen wird.
Manche muslimischen Einwanderer argumentieren, Diskriminierung hindere sie an vollständiger Integration.
Stimmt, Diskriminierung ist ein Problem. Wäre ich auf Jobsuche in Hamburg, würde ich nicht Muhammad heißen wollen. Aber das stützt nur mein Argument, dass es besser ist, in Saudi-Arabien oder Kuwait Muhammad zu heißen. Warum sollte man Völker zusammenzwingen, die, wie die letzten 55 Jahre bewiesen haben, nicht spannungsfrei zusammenleben? Das Experiment der muslimischen Einwanderung in Europa ist gescheitert, und es fortzuführen, wird die Spannung nur erhöhen.
Anders als viele Einwanderungskritiker betonen Sie oft, dass nicht Islam per se, sondern Islamismus eine Bedrohung sei. Wie grenzen Sie beides voneinander ab?
Islamismus ist eine spezifische Lesart des Islams, die lehrt: Wenn Muslime so reich und mächtig werden möchten wie vor tausend Jahren, müssen sie islamisches Recht in seiner Gänze anwenden. Islamisten sind untereinander gespalten, wie genau das aussehen soll: Die modern ausgerichtete Gülen-Bewegung in der Türkei repräsentiert das eine Extrem, der IS, der ins siebte Jahrhundert zurückkehren möchte, das andere. Manche Islamisten setzen Gewalt ein, andere agieren innerhalb des politischen Systems. Insofern ähneln sie den Kommunisten: Sie unterscheiden sich in der Wahl der taktischen Mittel, verfolgen aber ähnliche Ziele.
Sie beschreiben "die islamistische Bedrohung" als gegenwärtig größte Herausforderung für den Westen. Islamistischer Terror richtet zweifellos Schaden an; wie aber könnten Islamisten den ökonomisch und militärisch dominanten Westen in Gänze bedrohen?
Ich sehe Islamismus als die dritte große totalitäre Bedrohung nach Kommunismus und Faschismus: ein verführerischer und mächtiger Korpus von Ideen, der unseren Lebensstil bedroht. Und genau wie wir Faschismus und Kommunismus bekämpfen mussten, müssen wir nun Islamismus bekämpfen.
Wie stellen Sie sich diesen Kampf vor - kulturell, politisch, militärisch?
Gewalt zu bekämpfen, ist der einfache Teil. Mörderische dschihadistische Attacken erschrecken jeden, und westliche Staaten verfügen über Polizei, Geheimdienste und Armeen, um dagegen vorzugehen. Außerdem kann diese niedrigschwellige Gewalt zwar Menschen töten und Eigentum zerstören, aber keine Zivilisation umwerfen. Legal agierende Islamisten dagegen haben profunderen Einfluss, weil sie innerhalb des Systems agieren: in Politik, Bildung, Medien, im philanthropischen Sektor. Ich würde auf der Straße zwar lieber einem legalen Islamisten als einem gewalttätigen Dschihadisten begegnen. Aber es sind die gewaltlosen Taktiken, die die Gesellschaft verändern; und relativ wenige Menschen im Westen bemerken, was vor sich geht.
Die Stadt Hamburg hat 2012 einen Staatsvertrag mit muslimischen Gruppierungen wie Ditib und Schura unterschrieben, um Islamunterricht und islamische Feiertage zu regulieren. Mitgliedern dieser Organisationen werden islamistische und antisemitische Einstellungen vorgeworfen. Doch die Stadt scheint keine alternativen Partner zu finden.
Das ist ein häufiges Problem: Islamisten sind viel besser organisiert und finanziert als nicht-islamistische Muslime, unter anderem deshalb, weil sie Unterstützung von nahöstlichen Staaten wie Saudi-Arabien, Iran und der Türkei erhalten. Das erlaubt es ihnen, das muslimische Leben im Westen zu dominieren: Sie treten im Fernsehen auf, engagieren sich in interreligiösen Dialogen, unterrichten in Klassenräumen und kooperieren mit Regierungen.
Wie bewerten Sie Europas Umgang mit Islamismus generell?
Im Vergleich zur Situation vor 20 Jahren ist das Bewusstsein für Islamismus stark gewachsen – aber noch nicht genug, um die Politik zu verändern. Fast überall in Europa existieren heute politische Parteien, die die Themen Einwanderung und Islamismus zur Priorität erklärt haben. Doch fast keine von ihnen hat Macht erlangt, weil diese Gruppierungen oft aus Amateuren bestehen, zu viele Extremisten in ihren Reihen haben und von Medien und anderen Parteien geächtet werden.
Wie die "Alternative für Deutschland"?
Genau. Die AfD ist ein exzellentes Beispiel für eine Gruppe aus Amateuren und Extremisten, die mit der Frage ringen, wer sie sein wollen – Liberale, Neo-Nazis oder irgendetwas dazwischen? So lange sie diese Frage offen lassen, bleibt ihr Wählerpotential begrenzt, und sie sind gefährlich. Aber ich erwarte und hoffe, dass die AfD reifen und sich in Richtung des Mainstreams bewegen wird. Es besteht offenbar Bedarf für eine solche Partei in Deutschland.
In Umfragen liegt die AfD bei unter 10 Prozent, während Angelas Merkels CDU fast 40 Prozent erreicht. Sind die Deutschen womöglich gar nicht so unglücklich über Merkels Flüchtlingspolitik?
Diese Zahlen überraschen mich. Ich kann nicht erklären, warum auch innerhalb der CDU niemand Frau Merkel herausfordert.
Der holländische Politiker Geert Wilders gehört zu den prominentesten Politikern in Europa, die muslimische Einwanderung kritisieren. Nachdem er vor Unterstützern rief, "Wollt ihr mehr oder weniger Marokkaner?", wurde er wegen Hetze angeklagt. Dennoch hat Ihre Organisation, das Middle East Forum, ihn in dem Gerichtsprozess finanziell unterstützt. Warum?
Wir vom Middle East Forum glauben an die Freiheit eines jeden, öffentlich seine Meinung über Islam und Islamismus zu sagen, egal, ob wir dieser Meinung zustimmen oder nicht. Deshalb hat unser "Legal Project" mehreren Angeklagten in den vergangenen Jahren geholfen, ihre Gerichtskosten zu begleichen, darunter auch Wilders. Ich stimme nicht mit seiner Definition des Feindes überein: Er sagt, es sei Islam per se, ich sage, es ist der Islamismus. Aber das ist zweitrangig. Ich möchte ihm wie jedem anderen helfen, sein Recht durchzusetzen, seine Meinung über den Islam zu sagen, ohne vor Gericht gezerrt zu werden.
Unter der politischen Korrektheit, die Sie in Europa beklagen, leidet die aktuelle US-Regierung eher nicht. Halten Sie Donald Trumps "Muslim-Ban" für einen klügeren Weg, islamistischen Umtrieben Einhalt zu gebieten?
Der Entscheidung der Trump-Regierung, Bürgern aus sechs mehrheitlich muslimischen Ländern die Einreise zu verwehren, war gut gemeint, aber schlecht ausgeführt. Nicht der Pass einer Person ist entscheidend, sondern ihre Haltung. Es gibt Kanadier, die unsere Feinde sind, und Iraner, die unsere Freunde sind.
Sie schreiben, dass westliche Regierungen moderate Muslime fördern sollten. Wenn in Deutschland zu Protestkundgebungen gegen islamistischen Terror aufgerufen wird, erscheinen jedoch meist nur wenige Muslime. Wer sind die anti-islamistischen Muslime, und wo findet man sie?
Wann immer in westlichen Staaten an Muslime appelliert wird, sich vom Islamismus zu distanzieren, laufen diese Appelle ins Leere. Einerseits liegt das an einem Mangel an Finanzierung und Organisation, andererseits an Einschüchterung: Man muss sehr viel Mut haben, um sich als Muslim öffentlich gegen Islamismus auszusprechen. Die neue liberale Ibn Ruschd-Goethe-Moschee in Berlin ist ein Beispiel dafür: Ihre Gründerin Seyran Ateş erhält Todesdrohungen.
Was sollten westliche Regierungen tun?
Mutige Anti-Islamisten wie Frau Ateş sollten offizielle Anerkennung und weitere Arten von Unterstützung erhalten. Islamisten wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan behaupten oft, es gebe nur eine Form des Islams, nämlich ihre eigene. Nein: Es gibt viele verschiedene Variationen des Islam, und Nichtmuslime sollten die islamistische Hegemonie ablehnen und gewiss nicht bestärken.
Auf einer Veranstaltung 2015 wurde Angela Merkel gefragt, was sie der Angst mancher Deutscher vor Islamisierung entgegensetzen könne. Die Kanzlerin antwortete, statt sich vor einer fremden Religion zu fürchten, sollten deutsche Christen sich auf ihre eigenen Wurzeln besinnen und öfter zur Kirche gehen.
Merkels empörende Antwort ist typisch für die Eliten in Westeuropa, die sich stur weigern, die Probleme muslimischer Einwanderung zur Kenntnis zu nehmen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Schuldgefühle, das Leben in einer Blase, die Suche nach Wählerstimmen, politische Korrektheit und die Angst, islamophob genannt zu werden.
Schuldgefühle weshalb?
Wie der französische Romanautor und Essayist Pascal Bruckner 2006 in seinem Buch La tyrannie de la pénitence erklärte, empfinden viele Europäer persönliche Schuld wegen des Trios Imperialismus, Faschismus und Rassismus, auch wenn sie selbst keinen Anteil an diesen Übeln hatten. Für manche ist schon weiße Hautfarbe ein Zeichen der Schuld. Entsprechend fühlen sie sich gezwungen, Nicht-Westlern unbegrenzte Toleranz entgegenzubringen. Die Tatsache, dass auch nicht-westliche Völker Sünden begangen haben, zählt für sie nicht – worin eine gewisse Arroganz, ja sogar Rassismus verborgen liegt: Nur weiße Sünden zählen.
Diese Schuldgefühle sind umso verblüffender im Angesicht der enormen europäischen Errungenschaften. Ich erinnere mich, wie ich während einer Finnlandreise 1987 durch die Straßen spazierte und dachte: "Dieser Wohlstand, diese Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie – das ist es, worauf die Menschheit hingearbeitet hat." Wie seltsam, dass ein Europa, das solche Erfolge erzielt hat, heute in Schuldgefühlen versinkt, zu wenig Kinder bekommt und sich nicht vor einer rivalisierenden Zivilisation schützt. Als Historiker sage ich: Eine solche Schwäche ist in der Geschichte beispiellos.