Von Daniel Pipes.
Zunächst war ich begeistert, als Israels Premierminister nach dem 7. Oktober hunderte Male sein Ziel eines "vollständigen Sieges" gegenüber der Hamas bekräftigte. Aber jetzt muss ich einräumen, dass das Streben nach einem sofortigen Sieg gescheitert ist.
Der ehemalige israelische Ministerpräsident Naftali Bennett kommt zu dem richtigen Schluss, dass die Ereignisse in Gaza sein Land zu einem "Aussätzigenstaat" gemacht haben. Zu dieser brutalen Einschätzung kam er nur wenige Wochen nachdem Israel internationale Bewunderung für seine außergewöhnliche Kampagne zur Schwächung der militärischen Fähigkeiten des Iran geerntet hatte.
Was hat zu diesem raschen Ansehensverlust geführt? Es resultiert daraus, dass die israelische Regierung zwei wichtige Fakten ignoriert hat. Die Folgen sind zwar schon vorangeschritten, aber wenn die Israelis diese Fakten berücksichtigten und sich neu ausrichten, kann die Wiederherstellung ihres Ansehens beginnen.
I. Israels hohe Bekanntheit
Erste ignorierte wichtige Tatsache: Israel erhält weltweit eine unverhältnismäßig große Aufmerksamkeit. Ein Vergleich mit anderen Ländern mit einer ähnlichen Bevölkerungszahl von etwa 10 Millionen Einwohnern macht dies deutlich. Fast jeder kennt Jerusalem und Benjamin Netanjahu, aber wer kann die Hauptstädte oder Premierminister von Aserbaidschan, Papua-Neuguinea, Sierra Leone, Tadschikistan oder Togo nennen? Fast jeder hat eine Meinung zum palästinensisch-israelischen Konflikt, aber wer hat fundierte Ansichten zu Bergkarabach, der Freien Papua-Bewegung, dem Bürgerkrieg in Sierra Leone, den Grenzkonflikten zwischen Tadschikistan und Kirgisistan oder den Rücktrittsforderungen an Faure Gnassingbé? Allein schon das Stellen solcher Fragen macht die außergewöhnlich hohe Bekanntheit Israels deutlich.
![]() Benjamin Netanjahu (links) ist weitaus bekannter als Faure Gnassingbé, obwohl Israel und Togo eine ähnliche Bevölkerungszahl haben und Togo flächenmäßig 2,5-mal größer ist. |
Seit seiner Gründung im Jahr 1948 hat dieses Profil sowohl extreme Kritik als auch extreme Unterstützung für den jüdischen Staat hervorgerufen. Auf der negativen Seite habe ich bereits vor über vierzig Jahren gezeigt, wie die intensive Medienberichterstattung dazu führt, dass Israel "an unmöglichen moralischen Maßstäben gemessen wird". Für Außenstehende "erscheint Israel so groß und seine Feinde so klein, dass es nicht im Verhältnis zu ihnen oder anderen Staaten beurteilt wird, sondern im Verhältnis zu abstrakten Idealen. Der Rest der Welt wird im Kontext seiner Zeit und seines Ortes gesehen; Israel wird isoliert betrachtet." Insbesondere "werden Israels militärische Aktionen oft ohne Rücksicht auf die Aktionen seiner Feinde beurteilt". Diese Analyse trifft genau auf das heutige Gaza zu.
Diese Prominenz bringt natürlich auch Vorteile mit sich. Nach den Ereignissen vom 7. Oktober beispielsweise stimmte der US-Senat mit 100 zu 0 Stimmen dafür, dass er "bereit ist, Israel zu unterstützen", während Mike Johnson bei seiner Amtseinführung als Sprecher des US-Repräsentantenhauses erklärte: "Der erste Gesetzentwurf, den ich in Kürze in dieses Haus einbringen werde, wird die Unterstützung unseres lieben Freundes Israel zum Ziel haben." Sein Gesetzentwurf "Solidarität mit Israel bei seiner Verteidigung gegen den barbarischen Krieg, den die Hamas und andere Terroristen begonnen haben" wurde mit 412 zu 10 Stimmen angenommen. Bei vergleichbaren Gräueltaten gegen Zivilisten in der Demokratischen Republik Kongo, Syrien und Myanmar fanden, wie kaum erwähnt werden muss, (die Opfer) keine vergleichbare Unterstützung seitens der USA.
Israel lebt also, im Guten wie im Schlechten, in einem Goldfischglas und hat mit einer Mischung aus übermäßiger Unterstützung und Diffamierung zu kämpfen. Kluge Staatsführer arbeiten innerhalb dieser Zwänge. David Ben-Gurion akzeptierte diplomatische Pläne, die er hasste, und verließ sich darauf, dass die arabischen Staaten sie an seiner Stelle ablehnen würden. Yitzhak Rabin baute eine so starke Freundschaft zu Bill Clinton auf, dass der US-Präsident erklärte, er "liebe diesen Mann wirklich". Törichte Politiker wie Menachem Begin, der seinerzeit in den Libanon einmarschierte, ignorieren diese Realität auf eigene Gefahr.
![]() In einem Akt der Freundschaft rückte Bill Clinton (links) im Oktober 1995 im Weißen Haus die Fliege von Yitzhak Rabin zurecht, während Rabins Assistent Eitan Haber zusah. |
II. Palästinenser als globale Priorität
Die andere Tatsache, die Jerusalem übersieht, betrifft den besonderen Grund für die Empörung über Israel (und damit über alle Juden). Die Außenwelt interessiert sich kaum für Israels innenpolitische Probleme – sei es die Justizreform, der Preis für Hüttenkäse, die Wehrpflicht für ultraorthodoxe Juden oder die Kriminalitätswelle unter den muslimischen Bürgern. Ebenso ignoriert sie fast vollständig die Außenbeziehungen des Staates – seien es Israels Beziehungen zu China oder Ägypten, sein Angriff auf die iranische Nuklearinfrastruktur oder sogar sein eigener Besitz von Atomwaffen. Die weltweite Meinung konzentriert sich sehr eng und spezifisch auf den Status der rund dreieinhalb Millionen Einwohner des Westjordanlands, des Gazastreifens und Ostjerusalems.
![]() Der Preis für Hüttenkäse löste im Juni 2011 in Israel große Proteste aus. |
Mit anderen Worten: Die Palästinenser sind für fast alle internationalen Probleme Israels verantwortlich. Welche Not oder Demütigungen sie auch immer erleiden, Israel wird dafür verantwortlich gemacht. Dabei spielt es keine Rolle, dass Israel sich vor Jahrzehnten aus Gebieten des Westjordanlands, in denen 90 Prozent der Palästinenser leben, und aus jedem Quadratmeter des Gazastreifens zurückgezogen hat, wodurch es jegliche Kontrolle über dieses Gebiet aufgegeben und jede Verantwortung für dessen Bevölkerung beendet hat. Israels Kritiker machen es dennoch für den Gazastreifen verantwortlich und ignorieren dabei die Unterdrückung der Bewohner durch die Hamas sowie die umfangreichen Lieferungen Israels. Vor dem 7. Oktober bezeichnete Human Rights Watch den Gazastreifen als ein von Israel betriebenes "Freiluftgefängnis". Westliche Wissenschaftler gingen noch weiter und bezeichneten das Gebiet als "Konzentrationslager".
So verwandelte meisterhaftes Marketing die wahrgenommene Opferrolle einer kleinen und schwachen Bevölkerung in das wichtigste Menschenrechtsthema der Welt, das weit mehr Aufmerksamkeit genießt als die viel größeren und erschütternderen solcher Konflikte, beispielsweise in Kamerun, Äthiopien und im Sudan.
Diese Haltung gegenüber den Palästinensern erklärt, warum die Hamas Gewalt gegen Israel ausübt, selbst wenn sie weiß, dass sie den militärischen Kampf verlieren wird; denn sie weiß auch, dass jeder Kampf ihren globalen Status weiter stärkt. Akademiker propagieren ihre Sache, Studenten errichten Zeltlager, Apparatschiks schicken ihnen Geld, und Politiker feiern ihren Extremismus. Kurz gesagt: Je mehr die Hamas Israelis angreift, desto mehr Wut schürt sie gegen Israel.
Israels Fehler
Diese beiden internationalen Obsessionen – Juden als Nachrichten, Palästinenser als Opfer – bestimmen den Kontext, in dem Jerusalem mit den Bewohnern des Gazastreifens umgeht. Das Grauen des 7. Oktober bot Israel im Anschluss die Gelegenheit, die günstige öffentliche Meinung, wie sie sich beispielsweise in den Abstimmungen im Kongress zeigte, zu nutzen, um die Hamas zu zerstören. Eine kluge Militäroperation mit einem klaren Endziel, die internationale Vorurteile berücksichtigt, hätte dies bewirken können.
Stattdessen offenbarten 22 Monate Kampfhandlungen eine Reihe von Fehlern Jerusalems. Führende Persönlichkeiten äußerten sich unverantwortlich über Rache, das Militär hatte zunächst keine Pläne, dann fasste es diese zu hastig und änderte sie willkürlich. Am schlimmsten war jedoch, dass es zwei völlig widersprüchliche Kriegsziele hatte: die Zerschlagung der Hamas und die Freilassung der Geiseln durch Verhandlungen mit eben dieser Hamas. Der israelische Militäranalyst Yoav Limor kommt bei der Betrachtung des Konflikts zu dem Schluss, dass "Israel im Gaza-Krieg vom Weg abgekommen ist. Es hat keine klare Richtung und daher keine Chance, seine beiden erklärten Ziele zu erreichen: die Rückkehr der Geiseln und die Zerschlagung der Terrororganisation Hamas".
Jerusalem, das sich auf interne Machtkämpfe konzentrierte und die beiden Obsessionen der Außenwelt ignorierte, nahm die weithin publizierten Szenen der Demütigung und des Hungers in Gaza, die die Meinung im Ausland so sehr vergifteten, kaum zur Kenntnis. Der Druck von fast allen Seiten zwang es schließlich dazu, Lastwagen mit Hilfsgütern zu entsenden, aber diese fanden kaum Beachtung, da weiterhin Berichte dominierten, die Israel feindlich gesinnt waren. Um einen Eindruck von der PR-Katastrophe zu bekommen, betrachten Sie einige Schlagzeilen aus dem Newsletter der Times of Israel vom 9. August:
(1) In einer bedeutenden Kehrtwende setzt Deutschland Waffenexporte nach Israel wegen Plan zur Eroberung von Gaza-Stadt aus.
(2) Witkoff will sich mit dem Premierminister von Katar zu einem umfassenden Abkommen treffen, während verzweifelt versucht wird, die Eroberung von Gaza zu verhindern.
(3) Etwa 20 arabische und muslimische Länder verurteilen Israels Pläne zur Eroberung von Gaza als "gefährliche Eskalation".
(4) Netanjahus nationaler Sicherheitsberater lehnte den Plan zur Übernahme von Gaza-Stadt ab
(5) Tausende versammeln sich, nachdem die Mutter einer Geisel zu einem Streik gegen den Gaza-Plan aufrief, der Gefangene "opfert"
(6) Weltweite Kritik an Israels Plänen zur Übernahme von Gaza-Stadt wächst; UN-Sicherheitsrat tritt zusammen
(7) Israel begeht Kriegsverbrechen – und seine Rechtsvertreter schweigen
Die letzte Schlagzeile – ein Bericht über einen Brief von zwanzig israelischen Professoren für internationales Recht an den Premierminister – ist vielleicht die belastendste. Wenn verantwortungsbewusste Israelis ihrer Regierung Kriegsverbrechen vorwerfen, ist etwas grundlegend schiefgelaufen.
Die Lösung: Aufgeschobener Sieg
Die jüngste Politik Israels hat zu einer Flut von schlechten Nachrichten geführt: sinkende Umfragewerte, Einstellung von Waffenlieferungen, kulturelle und akademische Boykotte, neue diplomatische Unterstützung für "Palästina" (durch Australien, Frankreich und andere), Übergriffe auf reisende Israelis und zunehmender Antisemitismus. Als kleines Land mit existenziellen Feinden kann sich Israel einen Zusammenbruch der ausländischen Unterstützung nicht leisten. Eine Katastrophe historischen Ausmaßes könnte bevorstehen, die Israel und den Juden für Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte, Schaden zufügen wird.
![]() Netanjahu brachte zu seinem Treffen mit Donald Trump im Juli 2024 eine Baseballkappe mit der Aufschrift "Total Victory" mit. |
Als Autor des Buches "Israel Victory" (2024) war ich begeistert, als Israels Premierminister nach dem 7. Oktober hunderte Male sein Ziel gegenüber der Hamas bekräftigte: "absoluter Sieg", "klarer Sieg", "vollständiger Sieg", "entscheidender Sieg", "umfassender Sieg" und "totaler Sieg". In ähnlicher Weise lehnte ich Verhandlungen Israels mit der Hamas über ihre Geiseln ab und drängte stattdessen darauf, sich konsequent auf die Zerschlagung dieser Organisation zu konzentrieren.
Aber jetzt muss ich einräumen, dass das Streben nach einem sofortigen Sieg gescheitert ist. Es hat zu lange gedauert, zu viel Verwüstung angerichtet und Israel in eine Krise gestürzt. Zwar ist die Hamas militärisch nur noch ein Schatten ihrer selbst und wurde von der Arabischen Liga verurteilt, doch sie dominiert weiterhin die Bevölkerung im Gazastreifen und behält die Fähigkeit, aus dem Verborgenen zuzuschlagen. Eine Fortsetzung des Krieges wird diese Situation wahrscheinlich nicht ändern, sondern nur die Zivilbevölkerung weiter in Armut und Leid stürzen, mit der drohenden Gefahr einer humanitären Katastrophe. Außerdem würde eine vollständige Übernahme des Gazastreifens durch Israel eine enorme wirtschaftliche Belastung mit sich bringen.
Mit schwerem Herzen plädiere ich daher dafür, den Sieg zu verschieben. Wenn Israels Kampagne in Gaza nach dem 7. Oktober mit dem Ziel begann, die Hamas zu zerstören, ist sie nun zu einer Mission geworden, um den eigenen Ruf zu retten. In die Politik umgesetzt, schlage ich daher vor, dass Israel Verhandlungen führt, um die Freilassung aller Geiseln zu erreichen, dass es eine neue, mit Gazanern besetzte Polizei und Verwaltung finanziert, die sich der Hamas widersetzt, um Steuern einzutreiben, Dienstleistungen zu erbringen und das Gesetz durchzusetzen. Und dass Israel sich auf den nächsten Angriff der Hamas vorbereitet, der erneut seine Niederschlagung der Dschihadisten rechtfertigen wird.
Israel muss die Auslöschung der Hamas zurückstellen, um sich zunächst um seine eigene Rehabilitation zu kümmern. Aber die Hamas hat nicht gewonnen, sondern nur überlebt, und ist weiterhin von der Zerstörung bedroht. Der Sieg Israels ist verzögert, aber nicht aufgegeben. Zuerst die Rettung, dann der Sieg.
Dieser Beitrag erschien zuerst beim Middle East Forum.
Der Historiker Daniel Pipes gründete 1994 die amerikanische konservative Denkfabrik "Middle East Forum" und leitet sie seither. Die Organisation sieht die Region des Nahen und Mittleren Ostens mit ihrer Repression und ihren ungelösten Konflikten – darunter Diktaturen, radikale Ideologien, Kriege und Bürgerkriege, Korruption und religiös-politisch motivierte Gewalt – als eine der Hauptquellen für die existenzielle Bedrohung des Westens. Pipes lehrte in Chicago, Harvard, Pepperdine und am U.S. Naval War College, er beriet insgesamt fünf US-Regierungen und wird immer wieder von Ausschüssen des US-Kongresses als Experte geladen. Er ist Autor von 16 Büchern über den Nahen Osten, den Islam und weitere Themen und schreibt Kolumnen für die "Washington Times" und den "Spectator". Seine Bücher wurden in 39 Sprachen übersetzt.