Einleitung: Der Kalte Krieg tobte noch, als ich mich einer Gruppe von zehn amerikanischen Spezialisten für den Nahen Osten und damit verbundene Themen anschloss, die im November/Dezember 1983 nach Moskau reisten. Vier Tage lang hatten wir intensive Treffen mit sowjetischen Pendants auf strikt vertraulicher Grundlage. Es war die sinnloseste akademische Übung, an der ich jemals teilnahm.
Jeweni Maksimowitsch Primakow (1929-2015) |
Die Teams wurden von Dankwart Rustow von der CUNY und Jewgeni Maksimowitsch Primakow vom Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen geführt (der 1998/99 Russlands Premierminister war). Zu den angesehenen amerikanischen Teilnehmern gehörten Bernard Lewis, J.C. Hurwitz und Greagory Massell; unter den Sowjets befanden sich Gingrich Alexandrowitsch Trofimenko, Vitali Wjatscheslaw Naumkin und Oleg Witalewitsch Kowtunowitsch. Als damals an Harvard Lehrender war ich sowohl das mit Abstand jüngste Mitglied der Delegation als auch der freimütigste Konservative, d.h. der Antisowjetischste.
Rustow hat die Begründung für die Treffen erklärt: Während Washington und Moskau "echte Differenzen, sogar scharfe Differenzen im Nahen Osten hatten ... schien es zumindest ein gemeinsames Interesse zu geben: einen regionalen Konflikt im Nahen Osten nicht in eine komplette atomare Konfrontation zwischen Supermächten eskalieren zu lassen". Macht Sinn; nur schade, dass die Veranstaltung nichts tat, um diesem Ziel näher zu kommen.
Ich ging mit Augen offen dorthin. Da mein Vater Richard Pipes Professor für russische Geschichte war, war mir der Kommunismus seit meiner Kindheit vertraut; darüber hinaus hatte ich 1976 schon die UdSSR besucht. Aber Repräsentanten des Sowjetstaates auf ihrem Heimatterritorium zu treffen gab mir frische Erfahrung aus erster Hand.
Ich war nicht der erste in meiner Familie, der an einem akademischen Treffen in Moskau teilnahm; Richard (links) und Irene Pipes waren fast 25 Jahre zuvor aus demselben Grund dort gewesen. |
Ich schrieb gleichzeitig einen Bericht, den ich wegen der ausdrücklich Vertraulichkeit der Treffen nicht zu veröffentlichen wagte. Aber mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, nachdem 36 Jahre vergangen sind und dem Ableben fast aller Teilnehmer scheint dies ein vertretbarer Zeitpunkt zu sein damit an die Öffentlichkeit zu gehen.
Bericht: Alles verlief bei der Ankunft in Moskau sehr angenehm. Unsere Gastgeber stießen mit uns bei den Treffen an, wobei der Wodka floss; sie redeten heiter davon, dass wir einander kennenlernen, was zu einem besseren Verständnis führen sollte.
IREX gibt es heute noch |
Die US-Delegation, finanziert vom International Research & Exchanges Board (IREX), hatte sich im Vorfeld zweimal in New York getroffen, um ihre Positionen zu Abläufen und Tagesordnung auszuarbeiten; wir erwarteten, wie es bei solchen Treffen die Regel ist, die Konferenz mit der Diskussion dieser Dinge zu beginnen. Die sowjetische Delegation hatte jedoch andere Vorstellungen. Sie hatte einseitig einen Ablaufplan des detaillierten Konferenzprogramms abgedruckt; damit wollte sie diese Diskussion umgehen – wobei dieser heimlich mehr sowjetische Präsentationen als amerikanische beinhaltete.
Primakow nuschelte zu Beginn der ersten Sitzung, dass das Programm, wenn keine Einwände erhoben würden, wie gedruckt akzeptiert sei. Wir Amerikaner fummelten immer noch mit den Kopfhörern für die Simultanübersetzung herum und verpassten diese einzige Gelegenheit das Programm zu beeinflussen. Unsere stundenlangen vorherigen Absprachen wurden von einem raschen und cleveren Zug der Sowjets ausgehebelt. Es war ein Zeichen dessen, was noch kommen sollte.
Als Amerikaner betrachteten wir die Gelegenheit als Möglichkeit eine Reihe US-Standpunkte anzubieten und sowjetische Meinung zu erkunden. In Spiegelung dieser Einstellung waren unsere Vorträge individualistisch, analytisch, selbstkritisch und maßvoll. Die Regierung Reagan erhielt, wie man sich vorstellen kann, viel Kritik und sogar Geringschätzung. Einzig mein Text mit dem nichtssagenden Titel "Die Rollen der USA und der UdSSR im Nahen Osten" verteidigte Washington und kritisierte Moskau.
Im Gegensatz dazu sprach die sowjetische Delegation mit einer Stimme und maßregelte uns mit aggressiven und lautstarken Pro-Regime-Polemiken. Ständig gaben unsere Gegenüber einander bei jedem Thema wieder – wenn sie auch zugegebenermaßen bei unwichtigeren Punkten stolperten (hm, wie sieht die aktuelle Parteilinie zur kommunistischen Partei Ägyptens aus?). Ihre Redner sahen so unterschiedlich aus wie unsere, was Alter, Geschlecht und Spezialisierung anging, aber sie alle wiederholten dieselben Worte, propagierten ohne Ende und Scham die offizielle Haltung.
Die Sowjets erwiesen sich als geübte und mühelose Lügner. Nehmen wir zwei Beispiele zu Afghanistan. Erstens pries ihr Experte überschwänglich die wirtschaftlichen Fortschritte des Landes seitdem die Kommunisten 1978 die Macht übernahmen. Er ignorierte die zwei Millionen Flüchtlinge und die mächtige Rebellion der Mudschaheddin gegen die Regierung. Als ich diese Themen aufbrachte, antwortete er, die Unmengen an Hilfen ziehe die Flüchtlinge nach Pakistan; das Thema der Mudschaheddin ignorierte er einfach.
Zweitens unterbrach derselbe Experte auf dramatische Weise seine eigene Präsentation um anzukündigen: "Da ich sicher bin, dass nichts von dem, was ich sagen werde, diesen Raum verlassen wird, kann ich Ihnen folgende Tatsache mitteilen: Sowjetische Soldaten kämpfen weder jetzt in Afghanistan noch haben sie das je getan. Sie agieren nur als Berater und Ausbilder für die afghanische Armee." Leider muss ich berichten, dass wir Amerikaner, aus Höflichkeit und weil wir nicht auf Streit aus waren, weder pfiffen noch lachten, sonder dort saßen, als würden wir etwas Berichtenswertes und Wahres erfahren.
Einige dieser sowjetischen Soldaten, die "weder jetzt in Afghanistan kämpfen noch das je machten". |
So viel war ziemlich vorhersagbar; weniger das, worüber die Sowjets reden wollten. Moskaus Aktivitäten waren schlicht unmöglich. Als ich die Dreistigkeit hatte Primakow nach den Absichten der Sowjets in Syrien zu fragen, explodierte er, befand die Frage für unzulässig, eine Beleidigung und irrelevant. Seine Wut schien nicht spontan zu sein, sondern eine kalkulierte Taktik um zu betonen, dass die sowjetische Politik nicht zur Diskussion steht. Und tatsächlich kamen, wie er wünschte, sowjetische Absichten nicht wieder auf; ich fühlte mich von meinen Kollegen zu isoliert, um einen zweiten Versuch zu unternehmen. Allerdings hinterließ Primakows Ausbruch bei mir für den Rest der Reise ein Gefühl unangenehmer Schutzlosigkeit, was mich stiller als üblich sein ließ.
Überraschenderweise hatten die Sowjets im Gegenzug den Anstand US-Politik nicht anzugreifen; es reichte ihnen, wiederholt Präsident Reagans Rede vom März über das "Reich des Bösen" zu zitieren und wiederholt verlegene amerikanische Reaktionen zu veranlassen.
Stattdessen war Israel der Fokus sowjetischer Beleidigungen. Seine Politik wurde als expansionistisch, "illegal", "aggressiv" und sogar "völkermörderisch" bezeichnet. Von allen russischen Texten war einer über das israelische Militär am bösartigsten. Ich verstand diesen Schachzug als die Erkundung der Möglichkeit, dass wir uns der antizionistischen Kampagne der Sowjets anschlossen; aber wenn das die Absicht war, dann führte sie ins Nichts.
Stattdessen gab es viel hochfliegendes und vages Gerede darüber Möglichkeiten zu finden, dass Washington und Moskau im Nahen Osten zu kooperieren. Sie warfen mit Redewendungen wie "der Freund meines Freundes ist nicht notwendigerweise mein Freund" und "der Nahe Osten ist kein Nullsummenspiel" um sich. Da keine der beiden Seiten konkrete Vorschläge machte, kam von mir ein seltener Eingriff; ich schlug höflich ein amerikanisch-sowjetisches Verbot von Waffenexporten an beide Seiten des Kriegs zwischen Irak und Iran sowie gemeinsame Bemühungen vor sowie andere zu ermuntern, dem Beispiel zu folgen. Die sowjetische Delegation ließ sich nicht dazu herab diese praktische Idee zu thematisieren.
Wenn wir 5.000 Meilen gereist waren, um vorgefertigten Tiraden ausgesetzt zu werden, konnten wir uns damit trösten, direkt der Herrscherklasse der Sowjetunion ausgesetzt zu sein, den wenigen, die von einem versagenden System profitieren. Primakow ist ein Akademiker (akademik), Mitglied der nomenklatura, des bezaubernden Kreises mit hohen Gehältern, bevorzugten Wohnungen, datschas, Zugang zu besonderen Läden und Auslandsreisen. Die anderen sowjetischen Teilnehmer am Seminar hatten, obwohl ebenfalls erfolgreich und privilegiert, einen weit niedrigeren Status. Diese Unterscheidung kam beim täglichen Mittagessen heraus, als die Gruppe sich in drei teilte. Bis auf Primakow aßen die Sowjets im schmuddeligen Keller des Tagungsorts der Konferenz; die Amerikaner erhielten ein recht angenehmes, wenn auch langweiliges Hotel-Buffet; und der akademik brauste in seiner von einem Chauffeur gefahrenen Limousine zu einem mutmaßlichen Festmahl in der Akademie davon.
Die Trostlosigkeit des Lebens in Moskau, besonders angesichts der bevorstehenden Wintersonnenwende, fügt sich der depressiven Qualität der Konferenz hinzu. Jeder Tag ist kalt und grau, die Sonne geht gegen 9 Uhr morgens auf und gegen 15.30 Uhr unter. Die Autos, in denen wir fahren, sind schmutzig. Die Läden sind trist, deren Regale oft leer. Das Essen ist schwer und monoton.
Wir waren in einem der besten Hotels der Stadt untergebracht, dem Rossiya, aber es ist massiv, trist und schäbig. Jede Etage hat ihre eigene dezhurnaya, die Schreckschraube, die neben der Aufzugtür sitzt und argwöhnisch dein Kommen und Gehen beobachtet. Im Raum selbst müsste der Duschkopf an einen Stangenhalter passen, um zu halten, aber der Halter ist rund und der Duschkopf viereckig. Die Toilette zu spülen erfordert einen Lernprozess, wie der Knopf dafür gezogen und gedrückt werden muss und das auf die genau richtige Weise. Das Toilettenpapier ähnelt Zeitungspapier, die Seife hat Waschmittelqualität, die Handtücher sind leicht vergrößerte Spüllappen.
Das Hotel Rossiya – massiv, trist und schäbig |
Ich verließ das Seminar zutiefst unzufrieden mit meinen Kollegen. Wir hatten der anderen Seite widerstandslos überlassen die Bedingungen für die Konferenz festzulegen, stellten nicht genug Fragen, stellten keine Anschlussfragen und akzeptierten Gewäsch als Wahrheit. Primakow ist ein archetypischer sowjetischer Rüpel, der – recht erfolgreich – versuchte mich einzuschüchtern.
Was sollte die ganze Übung? Die Amerikaner hofften ganz naiv etwas zu lernen; die Sowjets hofften auf dumme Weise uns zu überzeugen. Kurz gesagt: Das ganze Unternehmen schlug auf beiden Seiten komplett fehl.
Postskriptum: Das war das erste von vier Treffen, die von Rustow und Primakow geleitet wurden (weitere fanden 1986, 1988 und 1990 statt); es überrascht nicht, dass ich nicht wieder eingeladen wurde.
Trotz des Scheiterns irgendeines der erklärten Ziele zu erreichen tröste ich mich mit dem Gedanken, dass dieses Treffen dem Gefüge westlichen Kontakts einen winzigen Stein hinzufügte, das sowjetische Augen öffnete und half nur sieben Jahre später den Kollaps der Sowjetunion herbeizuführen.