Hat Europa irgendwelche Konservativen? Soll heißen: Leute, die an individuelle Verantwortung glauben, nationale Unabhängigkeit, freie Märkte, ein einziges Recht für alle, die traditionelle Familie und maximale Meinungs- und Religionsfreiheit.
Scheinbar nicht. Als Konservative bezeichnete Politiker – wie Angela Merkel in Deutschland, Jacques Chirac in Frankreich und Fredrik Reinfeldt in Schweden – stehen oft in Wirklichkeit leicht links, genauso wie ihre Parteien. Man könnte zu dem Schluss kommen, dass Konservatismus in seiner Heimat nicht mehr existiert.
Vier gefälschte Konservative Regierungschefs in einem Boot: David Cameron (GB, links), Angela Merkel (D), Fredrik Reinfeldt (Schweden) und Mark Rutte (NL) im Juni 2014. |
Man läge falsch. Es besteht in Europa eine beachtliche konservative Bewegung und sie wächst. Sie macht sich unsichtbar, verborgen, weil sie als Populisten, Nationalisten, Rechtsextreme oder sogar Neonazis geteert werden. Ich habe für diese Gruppe einen anderen Namen: Zivilisationisten, die einräumen, dass (1) sie sich auf den Erhalt der westlichen Zivilisation konzentrieren und (2) dass sie machen entschieden nicht konservative Politik vertreten (so höhere Sozialleistungen und Rentenzahlungen).
Das Hauptanliegen der Zivilisationisten besteht nicht im Kampf gegen den Klimawandel, den Ausbau der Europäischen Union, auch nicht die russische und die chinesische Aggression abzuwehren; stattdessen konzentrieren sie sich auf den Erhalt der historischen Zivilisation der letzen zwei Jahrtausende. Sie sorgen sich, dass Europa ein Anhängsel des Nahen Ostens oder Afrikas wird. Indigene Europäer beschweren sich bereits, dass sie sich in ihren Heimatstädten wie Fremde fühlen, dass Rentner Angst haben ihre Häuser zu verlassen und dass die wenigen christlichen und jüdischen Schüler einer Schule von Immigranten-Schlägern verprügelt werden. Stellen Sie sich vor, wie die Dinge aussehen werden, wenn sich die Verhältnisse verändern.
Die Angst der Zivilisationisten hat vier Hauptelemente: Demografie, Immigration, Multikulturalismus und Islamisierung (oder DIMI, in Erinnerung an das arabische Wort Dhimmi, dem Status von Juden und Christen, die sich der Herrschaft der Muslime unterwerfen).
Die Teile des DIMI-Quartetts sind eng miteinander verbunden: demografisches Scheitern schafft einen Bedarf, der Multikulturalismus fördert, der als markantes Element Islamisierung ausweist.
Fangen wir mit der Demografie an: Jedes Jahr nimmt die indigene Bevölkerung Europas wegen der geringen Geburtenrate von 1,5 Kindern pro Frau um mehr als eine Million Personen ab, eine Zahl, die im Lauf der Zeit stet zunimmt. Um die Bevölkerung zu erhalten braucht es eine jährliche Zuwanderung von mehr als dieser Zahl (wenige Immigranten kommen als Neugeborene in Europa an).
Der potenzielle Pool an Immigranten übersteigt diese Zahl bei weitem. Um nur zwei Zahlen anzuführen: Ein ehemaliger iranischer Landwirtschaftsminister sagt voraus, dass infolge von Wassermangel bis zu 70% der Bevölkerung des Landes – 57 Millionen Iraner – auswandern werden. Man erwartet, dass die Bevölkerung Afrikas sich bis zum Jahr 2100 verdreifacht, was zu hunderten Millionen führt, die in Europa eine neue Heimat suchen werden. Ein Viertel der Bevölkerung der Europäischen Union wird nach Angaben von Stephen Smith in dreißig Jahren afrikanischer Herkunft sein.
Der Fluss Zayanderud war für Isfahan, was die Seine für Pars ist. Beachten Sie die 400 Jahre alte Si-o-seh-Brücke, aufgenommen im Juli 2018. |
Nicht-westliche Zuwanderung bringt eine Vielzahl praktischer Probleme: neue Krankheiten, sprachliches Unverständnis, Fehlen notweniger Arbeitskompetenzen und hohe Arbeitslosigkeit.
Multikulturalismus ist das Ergebnis einer Mischung aus der Durchsetzung von Zuwanderung und europäischen Schuldgefühlen und Selbstzweifeln. Multikulturalismus nimmt an, dass Kulturen moralisch gleichwertig sind und sieht keine Gründe die europäische Zivilisation irgendeiner anderen vorzuziehen. Burqas gelten genauso viel wie Ballkleider, Burkinis so viel wie Bikinis.
Und schließlich bringt die Islamisierung eine Reihe feindseligen Handelns und Überlegenheitsattitüden mit sich, die mit bestehenden westlichen Gepflogenheiten unvereinbar sind: obligatorische Kopftücher, partielle No-Go-Areas, taharrusch (sexuelle Ausbeutung), Gruppenvergewaltigungen, Sklaverei, Heirat unter Cousins ersten Grades, Vielehe, Ehrenmorde, weibliche Genitalverstümmelung, die Rushdie-Regeln, Jihad-Gewalt, die Durchsetzung des islamischen Rechts für alle und ein tiefgehender Nihilismus.
Das Establishment oder was ich die "Sechs P" nenne (Polizei, Politiker, Presse, Priester, Professoren und Staatsanwaltschaft[i] tendiert dazu auf das DIMI-Quartett selbstgefällig zu reagieren. Unter Fokussierung auf das Negative in Europas Geschichte, besonders Imperialismus, Faschismus und Rassismus, bringt die Elite perverse Schuldgefühle zum Ausdruck und duldet oder ermutigt sogar die Umgestaltung Europas weg von seiner historischen Kultur.
Zivilisationisten reagieren auf diesen Trend mit konservativer Sorge und arbeiten am Widerstand gegen diese Umwandlung. Sie fühlen sich nicht schuldig; im Gegenteil: sie wertschätzen nationale Traditionen und sie betrachten ein Europa, das zum Anhängsel des Nahen Ostens oder Afrikas wird, als Zusammenbruch von Werten und als existenzielle kulturelle Bedrohung.
Das Establishment lehnt sie als altmodisch, schwach, vergreist, ignorante Versager. Selbst Analysten, die den Zivilisationisten verständnisvoll gegenüber stehen, darunter angesehene Autoren wie Bat Ye'or, Oriana Fallaci und Mark Steyn, betrachten die Sache als verloren und "Londonistan" sowie die Islamische Republik Frankreich als unausweichlich.
Dem ist aber nicht so. Zivilisationisten sind bereits eine einflussreiche Kraft; sie sind aus einer marginalen Position vor zwanzig Jahren in vielen Ländern in eine zentrale Rolle vorgedrungen. Sie sind die größte parlamentarische Opposition in Finnland, Deutschland, den Niederlanden, Spanien und Schweden gewesen oder sind es noch. In Österreich, Estland, Italien, Norwegen und der Schweiz sind sie an der Regierung beteiligt gewesen oder aktuell in ihr vertreten. Sie regieren in Polen in einer Koalition und in Ungarn allein. Ihr Scheitern ist alles andere als unausweichlich.
Angesichts dessen stelle ich einige Voraussagen an:
Erstens: Weil niemand sagt: "Ich hatte wegen DIMI Sorge, aber dem ist nicht mehr so" wird die Zahl der Zivilisationisten weiter zunehmen. Innerhalb von 15 bis höchstens 20 Jahren werden sie die europäische Politik wahrscheinlich bestimmen, mit der möglichen großen Ausnahme von Großbritannien, wo sie steckengeblieben sind. Nach einem langen und bitteren Kampf wird diese Gegenbewegung zur Wiederherstellung der traditionellen Gepflogenheiten letzten Endes obsiegen.
Zweitens: Die Zivilisationisten haben drei Wege zur Macht: Kontrolle der Regierung wie in Ungarn und Polen; sich mit nominell Konservativen zusammen tun wie in Österreich; oder sich mit Linken zusammentun wie in Italien. Dazu kann die Linke selbst in eingeschränktem Maß durch einige konservative Ideen an die Macht kommen, wie es in Dänemark der Fall ist. Dazu könnten neue Wege auftauchen.
Die Visegràd-Gruppe aus Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn überrascht damit Europas anzuführen. |
Drittens: Die Länder des ehemaligen Warschauer Pakts werden auf dem Weg in diese Zukunft die Richtung weisen. Sie sehen die Fehler von NATO-Europa und haben sich entschlossen, diese nicht zu wiederholen. Zu ihnen gehören die vier Visegràd-Staaten (Polen, Slowakei, Tschechien, Ungarn) sowie Ostdeutschland, Rumänien und Bulgarien. Der östliche Teil Europas ist ein Jahrtausend lang dem westlichen Teil hinterhergehinkt, daher ist das ein eine bemerkenswerte Wende.
Viertens: Zivilisationisten sind kaum für ihren Intellektualismus oder Prinzipien bekannt, sie als Konservative zu betrachten könnte also überraschen. Aber sie bewegen sich ungleichmäßig in diese Richtung. Was mit Instinkt, grobem Populismus und krudem Mehrheitsanspruchdenken beginnt, entwickelt sich in etwas Präziseres, während sich die Zivilisationisten ins politische Zentrum bewegen, um Anhänger zu gewinnen. Die Erfahrung reguliert Maßlosigkeit. Intellektuelle erscheinen; zu diesen gehören Douglas Murray (Großbritannien), Alejandro Macarón (Spanien), Renaud Camus (Frankreich), Bat Ye'or (Schweiz), Thilo Sarrazin (Deutschland), Christian Zeitz (Österreich), Victor Orbán (Ungarn) und Lars Hededaard (Dänemark).
Um die von Demografie, Zuwanderung, Multikulturalismus und Islamisierung geschaffene Krise abzuwehren, müssen die besten Merkmale des Kontinents erhalten werden. Zivilisationisten repräsentieren Hoffnung für Konservatismus und für die Zukunft Europas.
Daniel Pipes (DanielPipes.org, @DanielPipes) ist Präsident des Middle East Forum
Grundlage für diesen Artikel war ein Gespräch, das auf einer Konferenz zu nationalem Konservatismus geführt wurde.
© 2020 Daniel Pipes – alle Rechte vorbehalten
Nachtrag vom 21. April 2020:
In der Berichterstattung zu der Konferenz, auf der diese Analyse erstmals vorgelegt wurde, schrieb Constanze Stelzenmüller, Robert Bosch Senior Fellow an der Brookings Institution, in der Financial Times, mein Vortrag sei "abschreckend" und "abstoßend" gewesen.
Es gab einige abschreckendere Anmerkungen. Ein dankbares Publikum hörte, wie der Akademiker Daniel Pipes die rechtsextremen Parteien Europas aufzählte ("manche bezeichnen sie als Nazis oder Populisten, ich nenne sie Zivilisationisten) und ihre Vorherrschaft in Europa vorhersagte. Niemand protestierte. Das ist die üble Wahrheit über die Nationalisten. Sie predigen sozialen Zusammenhalt, nationale Erneuerung und Zurückhaltung in internationalen Angelegenheiten. Aber sie befürworten und feiern die toxischen Kräfte, die diese Ziele zerstören. Das sind keine Kritiker des Präsidenten, sondern seine Jünger. |
[i] Englisch: prosecutor