Ein Gespräch mit Daniel Pipes über die neusten Entwicklungen in der Türkei und was sie für die Region, für Israel und für die Vereinigten Staaten bedeuten
von Rami Dabbas | 25. November 2021 | Themen: Türkei
Im Zuge der bevorstehenden Parlamentswahlen in der Türkei und des starken Verfalls der türkischen Währung hat sich Israel Heute an Daniel Pipes, einen renommierten Experten für Nahostpolitik und Islam, gewandt, um seine Meinung zu den jüngsten Entwicklungen zu erfahren. Wie werden sie sich insbesondere auf die Beziehungen zu den USA und Israel auswirken, und wird die Türkei islamistischer?
Israel Heute: Die türkische Lira ist auf ein Rekordtief von rund 13 Lira pro US-Dollar abgestürzt. Noch vor einem Jahr lag sie bei etwa 7 Lira pro Dollar. Was steckt hinter diesem rasanten Verfall, und wohin führt er?
Daniel Pipes: Der Verfall der türkischen Währung ist das Ergebnis zweier politischer Maßnahmen, die Recep Tayyip Erdoğan, der starke Mann der Türkei, verfolgt. Erstens regiert er despotisch, launisch und unberechenbar. Infolgedessen sind die ausländischen Direktinvestitionen, die die Wirtschaft in der ersten Hälfte seiner 19-jährigen Regierungszeit angekurbelt haben, versiegt. Zweitens beharrt er auf der verrückten Idee, auf hohe Inflation mit niedrigen Zinsen zu reagieren, was die Inflation in die Höhe treibt und die Währung abstürzen lässt. (Diese Voreingenommenheit resultiert wahrscheinlich zumindest teilweise aus der islamischen Ablehnung jeglicher Zinsen auf Geld.)
Der Verfall der türkischen Lira verläuft schneller denn je. Zumindest ein Wirtschaftswissenschaftler, David P. Goldman, schließt aus der derzeitigen Situation, dass "die Türkei vor einer Hyperinflation steht". Sollte dies der Fall sein, wäre es nicht das erste Mal; vor 20 Jahren kostete eine Taxifahrt Millionen von Lira. Im Jahr 2005 strich die Regierung sechs Nullen aus der Währung und machte aus einer Million alter türkischer Lira eine neue.
Eine Katastrophe bahnt sich an. Wie ich vor zwei Jahren im Wall Street Journalschrieb, könnte Erdoğans "fortgesetzte Herrschaft der Türkei die politische Repression, den wirtschaftlichen Zusammenbruch, den Hunger und die Massenauswanderung bringen, die Nicolás Maduros Venezuela plagen."
Analysten widmen Erdoğans Popularität im Vorfeld der für Juni 2023 anberaumten Wahlen große Aufmerksamkeit. Was halten Sie davon?
Unabhängig von der Wahl wird Erdoğan an der Macht bleiben. Lassen Sie uns einmal die Gründe aufzählen, warum er nicht gehen wird: Er hat eine unvollendete Agenda, er hält sich für unentbehrlich, und er und sein Team fürchten das Gefängnis. Ich schlage vor, den Rummel um die bevorstehenden Wahlen zu ignorieren; Umfragewerte, Parteibündnisse und Botschaften spielen kaum eine Rolle, denn wie in Russland oder Syrien kennen wir die Ergebnisse bereits im Voraus.
Erdoğan und die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) islamisieren die Türkei in Bezug auf Gesetze, Bildung und Symbolik wie die Hagia Sophia. Worin besteht letztendlich ihre Vision für die Türkei?
Erdoğan erklärte 2014, er wolle eine "fromme Generation" von Türken heranziehen. Aber das ist nicht geschehen. Stattdessen sind – wie immer, wenn Regierungen ihren Untertanen eine Staatsreligion aufzwingen (siehe Iran) – der Islam als Ganzes und der Islamismus im Besonderen geschwächt worden. Eine Konda-Umfrage ergab, dass sich die Zahl der Atheisten zwischen 2008 und 2018 von 1 auf 3 Prozent verdreifacht hat, während sich die Zahl der Nichtgläubigen im gleichen Zeitraum von 1 auf 2 Prozent verdoppelt hat. Eine WIN/Gallup-Umfrage aus dem Jahr 2012 ergab, dass in der Türkei 73 Prozent der Menschen "nicht religiös" sind.
Was die Außenpolitik betrifft, könnte Ankara die Muslimbruderschaft aufgeben, um sich mit Kairo und Abu Dhabi zu versöhnen, die beide die Muslimbruderschaft als terroristische Gruppe betrachten?
Jüngste Schritte deuten darauf hin, dass Erdoğan die feindseligen Beziehungen der Türkei sowohl zu Ägypten als auch zu den Vereinigten Arabischen Emiraten verbessern möchte, und dies erfordert eine Abkühlung seiner Unterstützung für die Muslimbruderschaft. Aber jeder, der sich mit dem türkischen Diktator befasst, weiß, dass er seine Politik schnell und radikal ändert, sodass dieser taktische Wechsel wenig über seine langfristigen Absichten aussagt.
Was sagen Sie zu den türkischen Beziehungen zum Iran?
Diese Beziehungen sind einzigartig in der Nahostdiplomatie und reichen Hunderte von Jahren zurück. Sie sind komplex und vermischen ständig Kooperation und Konkurrenz. Beide Regime sind islamistisch, aber das eine ist sunnitisch und das andere schiitisch. Sie sind sich über ihre Weltanschauung einig, wollen aber beide die Umma dominieren. Soner Cagaptay meint dazu: "Im Nahen Osten ist Platz für einen Schah oder Sultan, aber nicht für einen Schah und einen Sultan. Ankara und Teheran scheinen einmal mehr in ihrem jahrhundertealten Wettstreit um die Vormachtstellung in der Region gefangen zu sein."
Mal normalisiert Erdoğan die Beziehungen zu Israel, mal greift er das Land verbal an. Was ist da los?
Er scheint den jüdischen Staat im Grunde genommen zu verachten, aber er braucht auch normale Beziehungen zu ihm, was die plötzlichen und drastischen Veränderungen erklären könnte. Doch eine grundlegende Feindseligkeit gegenüber Juden und dem Zionismus bedeutet, dass sich die Beziehungen zu Israel mit der Zeit immer weiter verschlechtern.
Und die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten?
Erdoğan scheint Amerika etwas weniger zu verachten als Israel, aber nicht viel. Außerdem braucht er die Vereinigten Staaten, was zu einer widersprüchlichen Politik führt, wie z. B. dem Kauf eines wichtigen russischen Waffensystems, während er gleichzeitig die schützende Nähe der NATO sucht. Während Erdoğan aus dem Nichts aufgestiegen ist und die türkische Innenpolitik seit fast zwei Jahrzehnten dominiert, zeigt er in der Außenpolitik deutlich weniger Kompetenz.