Weil die Wirtschaft der Türkei infolge des Zusammenbruchs seiner Währung Lira abstürzt, fragen sich Investoren und Ökonomen, warum Präsident Recep Tayyip Erdoğan weiterhin die exzentrische Wirtschaftspolitik verfolgt, die diese Krise verursachte. Er hat deutlich gemacht, dass seine Motivation in erster Linie religiöser Natur ist.
Ein Geldwechser zählt türkische Lira-Banknoten in einem Wechselbüro in Ankara, Türkei, 27. September 2021 |
Erdoğan hat die türkische Politik seit fast 20 Jahren in einer Reihe von Rollen dominiert – Parteichef der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, Premierminister und Präsident. Zwei bemerkenswerte Merkmale kennzeichneten die erste Hälfte seiner Herrschaft: Ständige Sorge, dass die leidenschaftlich säkulare Militärführung einen Staatsstreich inszenieren würde und ein außergewöhnliches Wirtschaftswachstum.
Das alles änderte sich im Juli 2011, als Erdoğan den Generalstabchef zusammen mit den Oberkommandierenden von Armee, Marine und Luftwaffe zum Rücktritt zwang, was ihm die Kontrolle über die Streitkräfte gab. Ohne weiter Angst vor einem Putsch war er schließlich in der Lage die islamistische Ideologie komplett zu verfolgen, die die säkularen Offiziere gedämpft hatten.
Diese Ideologie trat schnell zutage. 2011 unterstützte Erdoğan in Syrien und Ägypten andere Islamisten, provozierte Spannungen mit Israel und dem Westen und flirtete 2012 damit die NATO zugunsten der von den Russen und Chinesen dominierten Schanghai-Kooperationsorganisation zu verlassen. Innenpolitisch erhöhte die türkische Regierung die Steuern auf Alkohol und schränkte dessen den Verkauf und die Werbung ein; religiöse Schulen wurden üblicher und besser finanziert.
Die türkische Zentralbank |
Als Erdoğan 2018 die volle Kontrolle über die türkische Zentralbank übernahm, forderte er – anders als alle anderen Zentralbanken – dass sie die hohe Inflation mit Reduzierung der Zinsraten bekämpft. Zuerst versuchte er seine Motive zu verbergen. Während einer Währungskrise im Jahr 2018 beschwor Erdoğans Berater Cemil Ertem den Geist des großen Yale-Ökonomen Irving Fisher (1867-1947), um die Politik der Niedrigzinsen zu rechtfertigen. Ertem behauptete sogar, Erdoğans Ansichten "sind das Thema zeitgenössischer wissenschaftlicher Wirtschaftheorien von heute".
Als in den Medien Spott einsetzte, verstummten Erdoğan und seine Berater; sie boten keine weiteren Erklärungen für niedrige Zinsen, während die türkische Lira stetig an Wert zulegte. Dieses Jahr ist die Lira trotz massiver Devisenkäufe durch die türkische Zentralbank von 7 pro US-Dollar im Februar auf 18 Mitte Dezember gefallen. (Eine kurzfristige Maßnahme hat den Wechselkurs auf 13 gebracht, aber der Markt scheint nicht überzeugt zu sein.)
Am 19. Dezember erklärte Erdoğan, dass er Politik aufgrund seiner Interpretation des Gebots im Koran gestaltet, das die Zahlung von Zinsen auf Geld verbietet: "Sie beschweren sich, dass wir die Zinsrate immer weiter absenken. Erwartet von mir nichts anderes. Als Muslim werde ich weiter tun, was unsere Religion uns sagt. Das ist das Gebot." Diese einzelne, katastrophale Aussage ließ die Lira auf der Stelle um 12% abstürzen. Die Erkenntnis, dass Erdoğans Politik auf den lebendigen Geboten des Koran gründet, nicht auf den Theorien eines toten amerikanischen Ökonomen, erschreckte den Markt.
Beachten Sie die Zunahme der Zahlen der Lira pro US-Dollar am 19. Dezember, gefolgt von einem noch größeren Absturz am 20. Dezember dank einer kurzzeitigen Korrekturmaßnahme. |
Erdoğans Überzeugung zu Zinsraten hat furchbare Folgen für die Türkei. Proteste und Hunger breiten sich aus und das Land könnte den gleichen Weg gehen wie Venezuela. Timur Kuran, Wirtschaftswissenschaftler der Duke University, sagte, das kommende Chaos gibt Erdoğan und seinen Günstlingen "eine Gelegenheit den Ausnahmezustand auszurufen und trotz ihrer zunehmenden Unbeliebtheit an der Macht zu bleiben."
Erdoğans "was unsere Religion uns sagt"-Stellungnahme zeigt eine Unterwürfigkeit unter mittelalterliche Finanzvorstellungen, egal, welchen Schaden das anrichtet. Aber mittelalterliche Vorschriften passen nicht gut zu modernen Finanzen - oder zu fast nichts. Muslimischer Erfolg in der modernen Welt benötigt ein Überdenken des islamischen Rechts im Hinblick auf die aktuellen Umstände. Vorschriften des Koran könnten so interpretiert werden, dass sie vernünftige Zinszahlungen gestatten, aber Wucherzinsen verbieten.
Vor fünfhundert Jahren teilten Juden und Christen mit Muslimen die Feindschaft gegenüber Zinszahlungen, aber sie haben sich schließlich mit dieser finanziellen Notwendigkeit arrangiert. Muslime müssen dem Beispiel folgen oder mehr Instabilität, Unterdrückung und Armut in der Türkei und anderen mehrheitlich muslimischen Ländern riskieren.
Daniel Pipes (DanielPipes.org, @DanielPipes) ist Präsident des Middle East Forum
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