Interview geführt von Marcello Iannarelli
World Geostrategic Insights: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan erklärte am 2. September: "Eine NATO ohne die Türkei ist undenkbar. Griechenland hat in der NATO keinen Wert. Mit der Türkei ist die NATO stark, ohne die Türkei ist die NATO schwach." Hat er Recht?
Daniel Pipes: Nein, er hat Unrecht und das aus zwei Hauptgründen: Erstens, bringt die Türkei zwar wichtige Aktiva ins NATO-Bündnis ein – ihre großen Streitkräfte, eindrucksvolle Militärindustrie und die ausschlaggebende geografische Lage – aber all diese Aktiva sind allesamt vom türkischen Handeln beeinträchtigt. Die Streitkräfte greifen in Syrien Zivilisten an, die Bewaffnung geht an Äthiopien und die Lage führt zu unverschämten Land- und See-Ansprüchen. Zweitens ist Griechenland ein loyales Mitglied der NATO, es hat seine militärische Stärke aufgebaut und es arbeitet produktiv mit zwei Nicht-NATO-Partnern zusammen, Zypern und Israel. Die Zuverlässigkeit Griechenlands macht es weit wertvoller für die NATO als es die Türkei ist.
Der unverschämte Plan "Blaue Heimat" hat in der Türkei eine Anhängerschaft gefunden. |
WGI: Nur einen Tag später, am 3. September, beschuldigte Erdoğan Athen der illegalen Besetzung von Inseln in der Ägäis und drohte damit griechische Inseln zu erobern: "Dass ihr die Inseln besetzt, verpflichtet uns zu nichts. Wenn die Zeit, die Stunde kommt, werden wir tun, was notwendig ist." Er erinnerte die Griechen auch, "Izmir nicht zu vergessen", eine Bezugnahme auf einen türkischen Sieg über griechische Streitkräfte ein Jahrhundert zuvor. Was sagen Sie zu diesen Äußerungen?
DP: Ich betrachte sie als extrem gefährliche Ablenkung zu einem Augenblick, in der die NATO sich darauf konzentriert der Ukraine gegen Putins Aggression zu helfen. Jede feindliche Handlung Erdoğans gegenüber Griechenland wäre nicht nur an sich eine Katastrophe, sondern würde die einige Front gegen den russischen Einmarsch schwer beschädigen. Die NATO muss Erdoğan laut und deutlich warnen, dass sie sich auf die Seite Griechenlands gegen die Türkei stellen würde, so wie sie an der Seite der Ukraine gegen Russland steht. Ich frage mich auch, ob Putin Erdoğan ermutigte Griechenland zu drohen; wenn dem so ist, wie könnten die Drohung oder das Quid pro quo aussehen?
Was kochen Putin (links) und Erdoğan aus? |
WGI: Im Gegensatz dazu hat Ankara vor kurzem mit Nahoststaaten wie den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien, Syrien, Israel und Ägypten Unstimmigkeiten ausgebügelt. Warum kommt diese Charme-Initiative gerade jetzt?
DP: Bedenken Sie den schrillen Kontrast der Drohungen gegenüber Griechenland und die schnell wärmer werdenden Beziehungen zu diesen Nahost-Staaten. Angesichts dessen, dass die Türkei praktisch eine Diktatur ist, liegt die Erklärung wahrscheinlich weniger in einer ausgeklügelten Strategie und eher in Erdoğans Neigungen und Widersprüchlichkeiten. Als Tyrann, der oft unlogisch handelt, betrachtet er die Nahost-Staaten vielleicht als Bedrohung seiner Macht, während er Griechenland als unbedeutend abtut. Nicht nur ist die türkische Bevölkerung achtmal größer als die Griechenlands, sondern Erdoğan erlebte aus nächster Nähe den wirtschaftlichen Abstieg Griechenlands nach der globalen Rezession 2008. Und so mobilisiert er die öffentliche Meinung gegen einen als schwächer wahrgenommenen Gegner und weg von dem, was er als bedrohlicher betrachtet.
WGI: Bedeuten diese außenpolitischen Veränderungen eine taktische oder strategische Verschiebung?
DP: Fast alles, was Erdoğan tut, ist taktisch, ob er mit den Kurden arbeitet, Wirtschaftswachstum fördert, Waffen aus Russland kauft oder international seinen Charme spielen lässt. Er hat nur zwei gleichbleibende Ziele: Persönliche Macht zu sammeln und eine islamistische Agenda voranzutreiben.
WGI: Die Türkei ist für westliche Verbündete zunehmend zu einem Problem geworden, weil sie die Anforderungen der Allianz an demokratische Regierung nicht erfüllt und eng mit Gegnern (Russland, China) zusammenarbeitet. Wäre die NATO ohne die Türkei besser dran?
DP: Absolut. Die Türkei ist immer dann eine Belastung, wenn die NATO sich ISIS, dem Iran, Russland oder China entgegenstellt. Dass Ankara den Beitritt von Schweden und Finnland zur Allianz blockierte ist ein aktuelles Beispiel dafür, wie es die NATO behindert.
WGI: Sollte die Allianz Möglichkeiten ausloten die Türkei auszuschließen oder auszugrenzen?
DP: Ja, obwohl ich stark bezweifle, dass das geschieht, denn es gibt eine Mentalität Erdoğan als Anomalie zu betrachten und eine Rückkehr zur guten alten Türkei von 1952 bis 2002 zu erwarten. Aber ich habe Neuigkeiten für die NATO; mit einer unwesentlichen Ausnahme betrachten alle anderen türkischen politischen Parteien die NATO mit mehr Feindseligkeit als Erdoğan. Übrigens erlebte ich die Schwäche der NATO gegenüber der Türkei 2017 mit eigenen Augen, als meine Organisation, das Middle East Forum, Gastgeber einer NATO-Veranstaltung war und 11 Delegationen sich demonstrativ auf die Seite Ankaras stellten, statt auf die des Gründungsprinzips der NATO, "die Freiheit ihrer Völker zu schützen".
WGI: Sie haben als einfachere Lösung als den Ausschluss der Türkei vorgeschlagen eine NATO 2.0 ohne sie zu gründen. Woran denken Sie da?
DP: Theoretisch ist es möglich die Türkei aus der NATO auszuschließen, allerdings ist es schwierig und umstritten. Ich schlage vor eine neue Organisation zu schaffen, der alle anderen 29 Mitglieder angehören, aber nicht die Türkei. Dann sollten alle NATO-Aktivposten in die neue Organisation verschoben werden. Diesmal müssen klare Regeln für die Mitgliedschaft und den Ausschluss dazugehören. Wenn wir schon kreativ sind: Wie wäre es mit der Beseitigung des geografischen Bezugs und das Bündnis in etwa so nennen wie Global Alliance of Democracies (GLAD –Weltallianz der Demokratien)? Das öffnet dann die Tür für Israel, Indien, Australien, Japan, Südkorea und andere, die sich anschließen mögen. Das könnte zu einer Proto-UNO für Demokratien führen.
WGI: Würde die Türkei außerhalb der NATO nicht sogar noch mehr Probleme schaffen, weil sie sich enger an Russland und China anschließt?
DP: Das denke ich nicht. Erstens braucht die Türkei die NATO mehr, als die NATO die Türkei braucht. Die Türkei trat der NATO 1952 aus Angst vor Russland bei. Egal, wie sehr Putin und Erdoğan sich heute miteinander herumtreiben, die Türken wissen, wer der Boss ist und wer in zwei Jahrhunderten Krieg gewonnen hat. Zweitens stellt sich Ankara im diplomatischen, finanziellen, Handels- und militärischen Bereich bereits eng an die Seite von Moskau und Peking; die NATO-Mitgliedschaft hat sie nicht davon abgehalten.