Der plötzliche und bisher nicht erklärte Abgang des starken Mannes Tunesiens, Zine El-Abidine Ben-Ali (74), nach 23 Jahren an der Macht hat potenzielle Folgen für den Nahen Osten und die Muslime weltweit. So stellte ein ägyptischer Kommentator fest: "Jeder arabische Führer beobachtet Tunesien mit Angst. Jeder arabische Bürger beobachtet Tunesien hoffnungsvoll und solidarisch." Ich werfe einen Blick auf beide Gefühlslagen.
Tunesiens Zine el-Abidine Ben-Ali (links) mit seinen beiden Nachbarn Muammar Gaddafi aus Libyen (Mitte) und Abdelaziz Bouteflika aus Algerien. |
Im Verlauf der Zeit lernten die Regime sich zu schützen – durch überlappende Geheimdienste, sich auf die Familie und Stammesmitglieder zu verlassen, Repression und andere Mechanismen. Es folgten vier Jahrzehnte sklerotischer, steriler Stabilität. Nur in seltenen Ausnahmen (Irak 2003, Gazastreifen 2007) wurden Regime vertrieben; noch seltener spielte bürgerlicher Dissenz (wie im Sudan 1985) eine bedeutende Rolle.
Dann tritt Al-Jazira auf, das die gesamtarabische Aufmerksamkeit auf Themen seiner Wahl konzentriert; danach das Internet. Über seine preisgünstige, detaillierte und frühzeitige Information hinaus bietet das Internet außerdem nie da gewesene Geheimnisse (z.B. die gerade erfolgten Ausschüttungen von diplomatischen US-Depeschen durch WikiLeaks) gerade auch, weil es die Gleichgesinnten über Facebook und Twitter miteinander verbindet. Diese neuen Kräfte kommen im Dezember in Tunesien zusammen, um eine Intifada zu schaffen, die den eingegrabenen Tyrannen schnell vertrieben.
Wenn man die Macht der Entrechteten verherrlicht, die ihre düsteren, grausamen und habgierigen Herren stürzen, dann blickt man auch mit Beklommenheit auf die islamistischen Folgen dieses Aufruhrs.
Panzer und Soldaten auf den Straßen Tunesiens. |
Tunesische Islamisten spielten beim Sturz Ben-Alis eine minimale Rolle, aber sie werden sich mit Sicherheit danach drängen die sich ihnen bietende Gelegenheit nutzen. Und so hat der Führer der Ennahda, der wichtigsten Islamisten-Organisation Tunesiens, seine seit 1989 erste Rückkehr in das Land angekündigt. Hat Interimspräsident Fouad Mebazaa (77) den Durchblick oder die politische Glaubwürdigkeit die Macht zu behalten? Wird das Militär die alte Garde an der Macht halten? Haben moderate Kräfte die Bindekraft und die Vision einen islamistischen Aufstand abzuwenden?
Sie zweite Sorge betrifft das nahe gelegene Europa, das mit seiner eigenen islamistischen Herausforderung bereits höchst inkompetent umgeht. Sollte Ennahda die Macht übernehmen und dann Netzwerke ausdehnen, Gelder zur Verfügung stellen und vielleicht Waffen an Verbündete im nahen Europa schmuggeln, könnte das die dort bestehenden Probleme kräftig verschärfen.
Rached Ghannouchi, Kopf der Ennahda, Tunesiens wichtigster islamistischer Organisation. |
Franklin D. Roosevelt soll über einen lateinamerikanischen Diktator gesagt haben: "Er ist ein Bastard, aber er ist unser Bastard." Das gilt auch für Ben-Ali und viele anderen arabischen starken Männer, was die Politik der US-Regierung anscheinend in Unordnung zurücklässt. Barack Obamas ambitionierte nachträgliche Erklärung, er "spende dem Mut und der Würde des tunesischen Volkes Applaus", kann bequemerweise in beide Richtungen gelesen werden: als Warnung an die verschiedenen anderen "Bastarde" oder als "lieber spät als nie"-Anerkennung peinlicher Fakten vor Ort.
Während Washington Meinungen ordnet, dränge ich die Administration zwei Strategien zu verfolgen. Erstens den Vorstoß zur Demokratisierung zu erneuern, den George Bush 2003 initiierte, diesmal aber mit der notwendigen Vorsicht, Intelligenz und Genügsamkeit und im Bewusstsein, dass dessen mangelhafte Umsetzung es den Islamisten ungewollt erleichterte mehr Macht zu gewinnen. Zweitens sollte man sich auf den Islamismus als größten Feind der zivilisierten Welt konzentrieren und sich auf die Seite unserer Verbündeten stellen, einschließlich derer in Tunesien, um diese Pest zu bekämpfen.