Es ist genau zehn Jahre her, dass Ryan Gingeras ein außergewöhliches Vorwort zu seinem Buch Sorrowful Shores: Violence, Ethnicity, and the End of the Ottoman Empire 1912-1923 (Oxford University Press) verfasst hat. Daher zitiere ich es ausführlich:
Um ehrlich zu sein, diese Arbeit ist aus einem Akt der Feigheit geboren. Meine Ambitionen, die zu meinen umfangreichen Examen führten, tendierten zu einer Art radikalem, herausforderndem Projekt. Es gab in meinem Kopf kaum einen Zweifel, dass ich meine Dissertation über eine Ecke von Anatolien im Ersten Weltkrieg und/oder die frühe türkische Republik schreiben wollte. Ich nahm die empfindlichste Stelle, also Ostanatolien. Mir kamen ein paar Ideen: Vielleicht eine Studie darüber, wie die kleine Stadt Naxçıvan Teil Aserbaidschans wurde; besser noch: die Rekonstruktion von Kars nach der Gründung der türkischen Republik.
Beides, dachte ich, würde wunderbar dienlich sein. Mir wurde anderes gesagt. Freunde und Kollegen mit Jahren Erfahrung in Osmanischen Studien warnten mich, dass ich praktisch überlegte beruflichen Selbstmord zu begehen. Erstens gab es die Frage der Quellen. Woher würde ich sie bekommen? Gibt es solche Dokumente? Wichtiger ist: Würden die türkischen Archivare mir überhaupt erlauben die Dokumente zu sehen (eine Frage, denen anekdotenhaft Horrorgeschichten über Forscher folgten, denen der Zugang zu den Staatsarchiven verweigert wurde)? Dann mussten die politischen Folgen bedacht werden. Eine Dissertation, die sich mit Kurden, Armeniern oder anderen Tabuthemen der Türkei beschäftigte, war prädestiniert mir Probleme zu schaffen. Egal, was ich tun würde, wurde mir gesagt, jemand würde sehr unglücklich mit meiner Arbeit sein. Jemand, ob nun ein Mitglied des türkischen Parlaments, Mitglied der armenischen Diaspora oder andere Osmanen-Forscher würden mich bei lebendigem Leibe auffressen, weil ich irgendeinen Aspekt der jüngeren Geschichte Ostanatoliens infrage gestellt, hochgehalten oder ignoriert haben würde. Kurz gesagt, der Rat lautete: Lass die Finger davon. Lass es fallen. Vernichte diene Karriere nicht schon, bevor sie überhaupt beginnt.
Die Dissertation, die ich letztlich schrieb, gründete auf diesem Rat. Meine Zeit in den Archiven führte mich stattdessen dazu mich auf Westanatolien zu konzentrieren und lenkte meine Aufmerksamkeit auf die Rolle albanischer und nordkaukasischer Immigranten währen des türkischen Unabhängigkeitskriegs. Die Forschung zu diesem Projekt lief im Allgemeinen reibungslos. Keines der Albtraum-Szenarien, vor denen ich gewarnt wurde, wurde wahr. Keine lebenslangen Banne. Keine Hassmails. Nichts.
Ich kann immer noch nicht sicher sagen, dass meine Freunde und Kollegen, Leute, von denen ich glaube, dass sie aufrichtig mein Bestes wollten, falsch lagen. Ja, Archivare, Forscher und Mitarbeiter, die ich in Istanbul und Ankara traf, waren tatsächlich hilfreich, höflich und ihre Gesellschaft manchmal ein wahrer Genuss. Die bloße Erwähnung meines Interesses an muslimischen Migranten in Anatolien traf auf echten Enthusiasmus und Unterstützung bei den Archivaren, die mir halfen meine Recherche möglich zu machen. Ich sprach das Thema der Armenier und Griechen bei Archivpersonal öfter an, als dass es nicht zu tun. Da es nicht der Kern meiner Arbeit war, war das parallele Schicksal von Nichtmuslimen in Westanatolien während der Kriegsjahre ein Thema, das ich für mich behielt. In meinem Kopf spielten sich frühere Mahnungen weiter ab.
Kommentare:
(1) Die Vorsicht zahlte sich aus. 2009 wurde Gingeras Dozent am CW Post Campus der Long Island University; ein Jahrzehnt später ist hat er eine Professur an der Naval Postgraduate School.
(2) Gingeras gibt öffentlich zu, was in der Regel auf private Unterhaltungen und Gerüchte beschränkt bleibt, nämlich dass das Nahost-Studien-Establishment und die Staaten des Nahen Ostens zusammen eingrenzen, was als ein für die Forschung akzeptables Thema betrachtet wird – und wehe dem, der diese Grenzen überschreitet.
(3) Gingeras wählte sich ein ausgezeichnetes Ersatzthema, was nicht oft der Fall ist. Stattdessen hilft "Feigheit" zu erklären, warum die Nahost-Studien in albernen Themen schwelgen. Hier ist ein Beispiel aus einer Konferenz, "American & Muslim Worlds ca. 1500-1900", die vor zwei Jahren an der University of Pennsylvania stattfand; damals schrieb ich, die Konferenz meide "große, bedeutungsvolle Analysen zugunsten unbedeutender Mikro-Themen" und beantworte Fragen, die nie jemand stellte. Zu den Vortragsthemen gehörte:
- Byrons Huris in Amerika: Visuelle Darstellung muslimischer Heldinnen in der Gallery of Byron Beauties
- Fremde im Land der Fremden: Die 'Rebs and Yanks' in der Khedival-Zitadelle
- Bombo's Amerika: Eine energetisch-humanitäre Sicht der frohen amerikanisch-orientalischen Erzählung
Kein Wunder, dass dieses Feld sich in einem erbärmlichen Zustand befindet (1. Mai 2019)
Nachtrag vom 1. Mai 2019:
Aber natürlich reagiert jemand, der seine Feigheit öffentlich eingesteht, auf diese Diskussion auf feige Weise. Gingeras schreibt: "Ich sage nur, dass das eine ziemlich krasse Fehlinterpretation des Vorworts meines Buchs ist. Es ist keine Kritik am 'Nahoststudien-Establishment' (ein solches Establishment gibt es übrigens nicht). Nichts in meiner Erfahrung, einschließlich dem Schreiben dieses Buches, führt mich zu dem Glauben, dass das Gebiet den Bach runter gegangen ist."