"Am oder um den Dezember 1910 änderte sich der menschliche Charakter", schrieb die britische Romanautorin Virginia Woolf 1924. "Ich sage nicht, dass jemand hinausging, wie man in einen Garten geht, und sah, dass eine Rose erblüht war oder dass eine Henne ein Ei gelegt hatte. Die Veränderung geschah nicht so plötzlich und deutlich. Aber es gab trotzdem eine Veränderung."
Woolfs berühmtes Zitat verweist gezielt auf eine Ausstellung naturalistischer Gemälde. Weiter gefasst markierte 1910 das ungefähre Datum einer gewaltigen Verschiebung in der Welt der Kunst: Das traditionelle Ziel der Schaffung von Schönem erloscht, wurde ersetzt durch das modernistische Ziel der Unterstützung von Idealen und der Vermittlung einer politischen Botschaft, besonders der épater la bourgeoisie (die Mittelklasse schockieren). Um das zu erreichen sind Grobheit und Hässlichkeit dem progressiven Ziel des Irritierens, Verstörens und Lehrens inhärent.
Italien, die Heimat der Renaissance und weithin als der Höhepunkt künstlerischer Leistung angesehen, bietet einen bemerkenswerten Ort für die Beobachtung dieses Kontrastes, wie meine jüngste Reise in zwölf italienische Städte deutlich machte.
Seit im siebzehnten Jahrhundert das Große Reisen begann, hat die vorherrschende Reiseerfahrung in Italien darin bestanden hinzugehen und sich in seine Schönheit zu versenken. Zum Teil sind das die natürlichen Anziehungspunkte von den hügeligen Weinbergen bis zu spektakulären Küstenaussichten. Am stärksten sind es aber Italiens künstlerische Leistungen: Römische Statuen und Ruinen, Renaissance-Piazzi und Gemälde, Venedigs Kanäle und Brücken. Die weniger bedeutenden Künste behaupten sich ebenfalls: Pasta, Soßen und Olivenöl erweisen der feinen Kochkunst die Ehre, die heutzutage sogar an Tankstellen entlang von Autobahnen gefeiert wird. Wie unzählige Ausländer vor mir bin ich seit meinem ersten Besuch 1966 von der klassischen italienischen Ergebenheit an Schönheit, den historischen Gegenden und ihrer bemerkenswerte Kultivierung des Schönen gefesselt gewesen.
Aber das sind nur die historischen Bereiche. Verlässt man diese und man stößt auf die hässliche Moderne. In Bologna zum Beispiel stößt, wer das Renaissance-Stadtzentrum verlässt, auf Gebäude im Stil des Stalinismus, scheußliche Speichertanks und grausame Graffiti (übrigens ein italienisches Wort).
Gebäude im stalinistischen Stil außerhalb von Bolognas historischem Zentrum |
Ein Speichertank und möglicherweise der hässlichste Ort in Bologna |
Graffiti ist ein italienisches Wort, woran mich diese Geschäftsfronten in Bologna erinnerten. |
Wenn Architektur die allgegenwärtige Ausdrucksform von Niedergang ist, dann leiden Malerei, Bildhauerei und Musik unter denselben Nöten, ein Punkt der alle zwei Jahre mit der berühmten Biennale in Venedig auf extravagante Weise belegt wird. 1895 eröffnet und in ungeraden Jahren und ununterbrochen über den Zeitraum von sechseinhalb Monaten veranstaltet, kontrastieren ihre Inhalte auf spektakuläre Weise mit der überragenden Schönheit ihrer Gastgeberstadt Venedig. Unter der einzigartigen Mischung aus Kanälen, Gondeln, mittelalterlichen Palästen und barocken Kirchen – Nachbarn für die höchsten Künste – steht eine ehemalige Fabrik und Lagerhaus voller trauriger und elender Auswüchse dessen, was man als moderne Kunst kennt.
Venedigs alles überragende Schönheit, von einem Wassertaxi aus betrachtet |
Ich bummelte auf der 57. Biennale von Halle zu Halle in der Erwartung didaktische, pedantische und politisch radikale Ausstellungsstücke zu finden. Zu meiner Erleichterung war offen linke Politik fast nicht vorhanden; stattdessen fand ich die triste Leere meist unsinniger Formen, Bilder und Worte. Die meisten Kunstgegenstände erschienen kindhaft, bauten auf ungestüme Primärfarben, einfache Formen und allzu einfache Botschaften. Geschick, Schönheit und Bedeutung waren allesamt auffällig abwesend: Eine mit ungeordneten Papieren gefüllte Hängematte. Aufgehängte Turnschuhe, in denen Pflanzen wuchsen. Ein aus Audiokassetten erstelltes Wandbild.
Das Management der Biennale ist besonders stolz auf seine Ausstellung in Primärfarben. |
Belesenes Interesse an einer mit diversen Papieren vollgestopften Hängematte. |
Faszination mit aufgehängten Turnschuhen, die mit Pflanzen gestopft sind. |
Nicht ganz Leonardo da Vinci – ein Wandbild aus Audiokassetten |
Nur ein perverses Ausstellungsstück aus unechten Leichen, das das verrottende Organische zur Schau stellt, kontrastierte durch seine Farblosigkeit; der Katalog hat den Nerv diese Ekel erregenden Figuren eine "ästhetische und ekstatische Transfiguration" zu nennen, die "eine neue magische Welt" schafft.
Baumelnde Leichen aus verrottende organischem Material sind "magisch" oder "sexy"? |
Es kam nicht überraschend zu erfahren, dass die Besprechung der aktuellen Ausgabe der Biennale durch die New York Times sie schalt im Alter von Brexit und Trump zu unpolitisch zu sein. Fein: Doch das Ausstellungsstück der verfallenden Leichen "sexy" zu nennen ekelte mich wegen seiner offenen Implikation von Leichenschändung an.
Ich war versucht der Horde der Kunstanbeter zuzurufen: "Der Kaiser hat keine Kleider. Das ist Betrug. Verlasst diesen trostloser Ort und stattdessen solltet ihr Venedigs vorzügliche Straßen, Wasserwege, Kirchen und Paläste besuchen." Aber die Ausstellungsbesucher hatten jeder einen Eintritt von €25 bezahlt und geht man nach den vielen Fotos, die geschossen wurden und den gelehrten Diskussionen, dann befriedigte die Biennale wohlgelaunt ihren künstlerischen Geschmack. Also hielt ich den Mund.
Zwei abschließende Beobachtungen: Venedig ist wohl die exotischste und schönste Stadt der Welt; wie paradox ist es dann, dass sie die mit auffälligsten Lieferanten von Dreck ablaicht, der sich als Kunst maskiert. Einhundertsieben Jahre nach 1910, dem Wendpunkt von Woolf, fragt man sich, wie viel länger die Farce der modernen "Kunst" weitergehen wird, bis führende Künstler Politik verwerfen und stattdessen das zeitlose Ziel des Schaffens von Schönem wiederentdecken.