Sollte Präsident Recep Tayyip Erdoğans AKP-Partei bei der Wahl am 1. November die Mehrheit der Sitze gewinnen, werden die Mainstream-Medien behaupten, dass seine Macht abnehmen wird. Die Schlagzeile einer breit zirkulierten Reuters-Analyse fasst diese Sicht zusammen: "Erdoğan mit wenig Wahlmöglichkeiten gesehen, muss nach türkischer Wahl Macht teilen." Agence France-Presse sagt voraus, dass weniger als die Hälfte der Sitze zu gewinnen "[die AKP] wieder zwingen würde die Macht zu teilen oder eine weitere Wahl auszurufen". Middle East Online sieht die Lage fast identisch so, dass die AKP gezwungen sein wird "die Macht zu teilen oder eine weitere Wahl zu organisieren". Und so weiter, fast ausnahmslos einschließlich der Worte "Macht teilen".
Der Oberste Wahlvorstand (Yüksek Seçim Kurulu) beaufsichtigt die Wahlen in der Türkei; wird sie gezwungen sein die Wahlen am 1. November zu fälschen? |
Was aber, wenn Erdoğan sich entscheidet die Macht nicht zu teilen? Dann hat er zwei Möglichkeiten. Ist das Ergebnis eng, ist Wahlbetrug ein klare Möglichkeit; Berichte legen nahe, dass hochentwickelte Software (denken Sie an Volkswagen) die Ergebnisse verdreht.
Ist das Ergebnis nicht so eng, kann Erdoğan das Parlament, den Premierminister, die anderen Minister und die gesamte verdammte Regierung kaltstellen. Diese Option, die als Möglichkeit von der Presse ignoriert wird, folgt direkt aus Erdoğans Handeln in der Vergangenheit. Seit er das Amt des Premierministers im August 2014 verließ, um der Präsident der Türkei zu werden, hat er sein altes Amt geschwächt und es fast seiner gesamten Autorität beraubt. Er übergab es einem professionellen außenpolitischen Theoretiker ohne politische Basis, Ahmet Davutoğlu, den er so eng kontrolliert, dass dieser nicht einmal über seine eigenen Referenten entscheiden kann (die zudem als Erdoğans Informanten dienen).
Gleichzeitig baute Erdoğan sich einen 1.005 Räume umfassenden Präsidentenpalast, der 2.700 Mitarbeiter beherbergt, die eine Bürokratie bilden, die potenziell die anderen Staatsministerien übernehmen kann, was eine scheinbar unveränderte Regierung an Ort und Stelle belässt, die hinter den Kulissen Befehle aus dem Palast erhält.
Der türkische Präsident Erdoğan (links) gibt Premierminister Davutoğlu (rechts) seine Marschbefehle. |
Erdoğan wird mit Sicherheit auch das Parlament kaltstellen; nicht, indem er es in eine groteske Jasager-Versammlung nach der Art Nordkoreas verwandelt, sondern in ein Gremium wie in Ägypten oder dem Iran, das mit zweitrangigen Dingen (Schulprüfungen, neue Autobahnen) beschäftigt wird, während es den Wünschen des Großen Bosses genaue Beachtung schenkt.
Dann wird er, um seine Machtübernahme zu vervollständigen, seine vielen Einflussmittel zur Kontrolle der Justiz, der Medien, der Konzerne, der akademischen Welt und der Künste einsetzen. Er wird zudem seine privaten Meinungsverschiedenheiten stilllegen, besonders in den sozialen Medien, wie die vielen Klagen vor Gericht nahelegen, die er und seine Kumpane gegen gewöhnliche Bürger einleiteten, die es wagen ihn zu kritisieren.
Chávez aus Venezuela (links) Russlands Putin (rechts) |
An diesem Punkt wird der Hugo Cháves/Wladimir Putin der Türkei, der die Demokratie mit einer Straßenbahn verglich ("Du fährst mit ihr, bis du an deinem Ziel ankommst, dann steigst du aus") wahrhaftig an seinem Ziel angekommen sein. Als Belohnung könnte er sich zum Kalifen aller Muslime erklären.
Zurück zur Gegenwart: Die Zahl der AKP-Sitze im Parlament spielt kaum eine Rolle, weil Erdoğan - legal oder illegal - alles Nötige unternehmen wird, um der neue Sultan zu werden. Er wird keine "Macht teilen" müssen, wird aber die Macht auf Biegen (Kaltstellung des Parlaments) und Brechen (Wahlbetrug) ergreifen. Die Hauptstädte des Auslands müssen sich auf die unangenehme Wahrscheinlichkeit einer skrupellosen Diktatur in der Türkei einrichten müssen.