Wird die Türkei islamistisch? Befindet sie sich auf dem Weg zur Einführung des islamischen Gesetzes, der Scharia?
Diese Fragen beantwortete ich auf einem Symposium bei FrontPageMag.com vor einem Monat zustimmend. Der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdoğan, so schrieb ich, plant die säkulare Revolution Atatürks von 1923/24 rückgängig zu machen und durch die Scharia zu ersetzen. Ich sagte voraus, dass die Führung seiner Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (durch ihre türkischen Initialen AKP bekannt) den demokratischen Prozess nur so lange benutzen wird, wie er seinen Zweck erfüllt. Sie wird die politische Beteiligung einschränken oder sogar abschaffen, wenn der richtige Moment kommt. Das Endergebnis, so sagte ich voraus, könnte eine Islamische Republik Türkei" sein.
In der Sprache der Beobachter der Türkei äußerte ich über Erdoğan und die AKP die Behauptung eines geheimen Plans. Die türkische Presse gab meinen Kommentaren weite Verbreitung; in der Mehrheit der Fälle mit Widerspruch.
Zufällig luden mich das Nixon Center und der German Marshall Fund dann ein, letzte Woche in einer euro-amerikanischen Gruppe an intensiven Diskussionen mit türkischen Politikern, Journalisten, Intellektuellen und Wirtschaftsführern teilzunehmen. Die Reise wurde dadurch pikanter, dass viele unserer Gesprächspartner meine Ansichten kannten und mich dazu befragten; daraufhin bekam ich einiges zu hören.
Ihre Argumente, muss ich zugeben, haben mich über Erdoğan's Absichten weniger sicher gemacht, als ich es bei meiner Anreise war.
Die Gründe für einen geheimen Plan beginnen mit der Tatsache, dass Erdoğan und viele seiner Kollegen ihre Karriere in einer islamistischen Partei begannen, die ausdrücklich die Beendigung der säkularen Ordnung der Türkei anstrebte. Sie stellten sich gegen das, was schillernd als der tiefe Staat" (das Militär, Justiz und Bürokratie – kollektive die Bewahrer des säkularen Erbes Atatürks) bekannt ist. Daraus gingen sie schlechter gestellt hervor als sie es vorher waren; manchmal wurden sie aus hohen Ämtern entfernt und ins Gefängnis gesteckt.
Intelligente Islamisten lernten aus dieser Erfahrung und nahmen Änderungen vor. Diese Veränderungen, muss betont werden, waren taktischer Natur (d.h. sie verfolgen ihre Ziele subtiler und langsamer), nicht strategischer (indem sie die säkulare Ordnung akzeptieren). Das passt in das bekannte Muster der islamistischen Verstellung (ein weiteres Beispiel findet man in Al-Qaidas Anweisungen an ihre Anhänger).
Zu dem Tun, das die Zweifel bestätigt, dass die AKP ihre Ziele änderte seit sie Ende 2002 an die Macht kam, gehören Versuche Ehebruch zu kriminalisieren, aus religiöser Lehre in öffentlichen Schulen Propaganda für den Islam zu machen und die Strafen für freiberufliche Koranlehre zu lockern. Auch die Verurteilung des Christentums als missionierende Religion und die Streichung der alevitischen Minderheit aus dem Religionsdirektorat der Regierung lassen Alarmglocken schrillen.
Die Argumentation gegen geheime Pläne führt an, dass Politiker aus ihren Fehlern lernen; sie werden reifer und ändern ihre Ziele. Wenn andere Politiker sich entwickeln (denken Sie an den deutschen Außenminister Joschka Fischer oder Israels Premierminister Ariel Sharon), warum nicht auch die Führung der AKP? Sie sind nicht länger die Hitzköpfe, die das System stürzen wollen, sondern arbeiten jetzt innerhalb desselben. Es gibt begrenzte Versuche es zu ändern, aber die AKP hat die säkulare Ordnung nicht grundsätzlich in Frage gestellt.
Die AKP zu interpretieren kann die Qualität eines anspruchsvollen intellektuellen Puzzle annehmen, wobei ein und dieselben Erkenntnisse zu gegensätzlichen Erklärungen führen können. Nehmen wir die emsigen Bemühungen, Akzeptanz als Vollmitglied der Europäischen Union zu gewinnen, indem man türkisches Vorgehen in Einklang mit EU-Standards zu bringen versucht. Passt das in islamistische Pläne der Ausdehnung der Rechte religiöser Praxis und der Verringerung der Rolle des Militärs in der Politik? Oder passt es in säkulare Planung, die Türkei in größerem Umfang zu einem Teil Europas zu machen? Man kann mit beidem argumentieren.
Einige Türken haben keine Lust über die Absichten der AKP zu spekulieren; sie sind der Meinung, dass die Partei den Säkularismus in der Türkei aufgrund verschiedener Faktoren nicht kippen kann: Der Säkularismus ist tief eingegraben und weithin populär; die Macht des tiefen Staats" kann islamistische Pläne einer gewählten Regierung hintertreiben; dazu kommen besondere Begrenztheiten der AKP. Zu diesem letzten Punkt gehört, dass die Partei verschiedene gegensätzliche Fraktionen in sich vereinigt und sehr schnell gewachsen ist; beides deutet darauf hin, dass sie nicht als diszipliniertes Instrument des ambitionierten Projekts eines Umsturzes der bestehenden Ordnung dienen kann.
Insgesamt befinde ich inzwischen die Belege für nicht mehr ausreichend um zu beurteilen, welchen Weg die AKP-Führung letztlich einschlagen will – ob man auf Dauer bei dem von Atatürk geerbten säkularen Rahmen bleibt oder ihn stürzt. Die Dinge könnten 2007 klarer werden, wenn man davon ausgeht, dass Herr Erdoğan dann Präsident der Republik wird, mit all der Macht, die dieses Amt ihm verleiht.
Im Augenblick bleibt die säkulare Ordnung der Türkei stark; dennoch erwarte ich einen größere Auseinandersetzungen um ihren Kurs in die Zukunft.