Wie nahm die US-Regierung früher den Islam als politische Kraft wahr? Als Antwort schlage ich vor, dass man einen Blick in eine vertrauliche", 1979 freigegebene 76-seitige Studie vor die morgen vor 60 Jahren vom militärischen Geheimdienst des US-Kriegsministeriums veröffentlicht wurde.
Der Bericht von 1946, den ich online im pdf-Format eingestellt habe (Warnung: Es handelt sich um ein großes Dokument, das sehr langsam laden könnte), ist die Erstausgabe einer Reihe wöchentlicher Berichte unter dem Titel Intelligence Review". Diese Reihe stellt die derzeitigen Informationen bezüglich der anstehenden Entwicklungen militärischer Interessen in den Feldern der Politik, Wirtschaft, Soziologie, technische Wissenschaften und natürlich militärische Fragen" dar. Zu den Kapitelüberschriften dieser ersten Ausgabe gehören: Übergang von Großmächten in Militärsysteme zu Friedenszeiten", Mandschurei: sojwetischer oder chinesischer Einflussbereich?" und Weizen: Schlüssel für die Lebensmittelversorgung der Welt".
Von besonderem Interesse ist ein elfseitiges Kapitel, dass ich mit Islam: Eine Bedrohung der Stabilität der Welt" beschäftigt. Es beginnt mit einigen düsteren Beobachtungen:
Mit wenigen Ausnahmen sind die Staaten [der muslimischen Welt] gekennzeichnet von Armut, Ignoranz und Stagnation. Sie sind voller Unzufriedenheit und Frustration, jedoch voller Bewusstsein ihrer Unterlegenheit und mit einer Entschlossenheit irgendeine Art von Verbesserung zu erreichen.
Zwei grundlegende Dringlichkeiten treffen sich in dieser Region und in dieser Kollision der Interessen wohnt Konflikt inne. Diese Dringlichkeiten offenbaren sich in den täglichen Nachrichten über Tötungen und Terrorismus, von Gruppen, die in Opposition Druck ausüben und grobem Nationalismus und nackten Expansionismus, der sich als diplomatische Manöver maskiert.
Der Bericht erklärt dann diese zwei Dringlichkeiten und beginnt zu Recht, indem er sich auf den langen Schatten der vormodernen Zeit konzentriert.
Die erste dieser Dringlichkeiten stammt aus dem Bereich der Muslime selbst. Die Muslime erinnern sich der Macht, mit der sie einst ihre Länder selbst regierten, aber auch halb Europa überwanden, sind sich aber der derzeitigen wirtschaftlichen, kulturellen und militärischen Verarmung schmerzhaft bewusst. So baut sich in ihrem kollektiven Denken ein enormer interner Druck auf. Die Muslime beabsichtigen mit allen zur Verfügung stehenden Mittel die politische Unabhängigkeit wiederzugewinnen und Profite aus ihren eigenen Resscourcen zu ernten. ... Die Gegend hat, kurz gesagt, einen Minderwertigkeitskomplex und ihre Aktivitäten sind daher so unvorhersagbar wie die einer jeden Einzelperson, die auf diese Weise motiviert ist.
Muslime unter psychologischen Begrifflichkeiten zu betrachten ist ein Charakteristikum dieser Zeit, in der Sozialwissenschaftler regelmäßig Politik durch das Prisma individuellen Verhaltens betrachteten. (Ein berühmtes Beispiel solcher Analysen ist Ruth Benedicts Studie von 1946, The Chrysanthemum and the Sword: Patterns of Japanese Culture" – Chrysantheme und Schwert. Muster der japanischen Kultur – in der sie argumentierte, dass der japanischen Nationalcharakter zum Teil durch stringente Techniken des Toilettentrainings geformt sei.)
Die andere fundamentale Dringlichkeit kommt von außen. Die Groß- und Fastgroßmächte der Welt decken die wirtschaftlichen Reichtümer des muslimischen Gebiets ab und sind so auch sehr bedacht auf die strategische Lage einiger der Besitztümer. Ihr Handeln ist ebenfalls schwer vorauszusagen, weil jede dieser Mächte sich selbst als in der Position des Kunden betrachtet, der seine Einkäufe schnell erledigen will, weil er zufällig weiß, dass das Geschäft ausgeraubt werden wird.
In einer Atmosphäre, die derart mit den feuergefährlichen Gasen des Misstrauens und der Ambitionen gesättigt ist, könnte der kleinste Funke zu einer Explosion führen, die jedes Land einbeziehen könnte, das dem Erhalt des Weltfriedens verpflichtet ist.
Die Einführung schließt mit einer Rechtfertigung der damaligen Analyse: Ein Verständnis der muslimischen Welt und des Drucks und der Kräfte, die dort wirken, ist daher ein wesentlicher Bestandteil des grundlegenden nachrichtendienstlichen Arbeitsrahmens."
Das Kapitel fährt mit einer eine Seite langen Skizze der muslimischen Geschichte fort, die diese Beobachtung einschließt: Derzeit gibt es keine starken muslimischen Staaten. Die Führung der muslimischen Welt verbleibt im Mittleren Osten, insbesondere in Arabien." Angesichts der Rückständigkeit Arabiens im Jahre 1946 war diese Stellungnahme entweder sehr uninformt oder sehr vorausschauend.
Der Großteil des Kapitels betrachtet Kräfte, die die muslimische Einheit schwächen oder stärken. Ersteres schließt das Fehlen einer gemeinsamen Sprache, die religiösen Schismen, geographische Trennung, wirtschaftliche Ungleichheiten, politische Rivalitäten und das, was der Bericht taktlos Prostitution der Führung" nennt, ein. Dieses Letzte ist weniger der Angriff gegen muslimische Könige, Präsidenten und Emire, sondern ein Überblick darüber, wie einige nicht muslimische Mächte, endend mit der Sowjetunion, behauptet haben der Beschützer des Islam zu sein. Die Analyse schließt die bemerkenswerte Beobachtung ein, dass Muslime ihren Führern gegenüber gehörig misstrauisch sind".
Kräfte, die die muslimische Einheit stärken, bilden eine zweite, kürzere Liste: die Pilgerfahrt nach Mekka, das klassische Arabisch, moderne Kommunikationsmittel und die Arabische Liga. Eine Erwähnung der Haddsch führt zu einer dramatisch falschen Vorhersage: Die Knappheit an Schiffen während des Krieges reduzierte die normale Masse auf etwa 20.000 bis 30.000 pro Jahr. Während die Zahl jetzt vermutlich zunehmen wird, ist es nicht wahrscheinlich, dass sie ihr früheres Ausmaß wieder erreichen wird." (Tatsächlich bricht die Pilgerfahrt praktisch jedes Jahr neue Teilnehmer-Rekorde und beläuft sich jetzt auf drei Millionen Pilger, ein Vielfaches dessen, was vor 1946 kam.)
Das Kapitel über den Islam schließt mit einem Blick auf die Rivalität der USA und der UdSSR. Weit entfernt davon, den Islam als Bollwerk gegen den Kommunismus" zu betrachten, wie es später der Fall war, betrachtet der Militärgeheimdienst als leichte Beute für Moskau. Er befindet muslimische Staaten als schwach und von internen Spannungen zerrissen" und bezeichnet ihre Völker als ungenügend ausgebildet, um Propaganda einzuschätzen oder die Motive derer zu begreifen, die einen neuen Himmel und eine neue Erde versprechen." Die Analyse endet mit einer nüchternen Notiz:
Wegen der strategischen Lage der muslimischen Welt und der Rastlosigkeit ihrer Völker stellen die muslimischen Staaten eine potenzielle Bedrohung des Weltfriedens dar. Es kann keine dauerhafte Stabilität in der Welt geben, wenn ein Siebtel der Bevölkerung der Erde unter wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen lebt, die den Muslimen aufgezwungen werden.
Die Stimme aus der Vergangenheit veranlasst drei Überlegungen. Erstens ist ihre direkte Wortwahl weit entfernt con den vorsichtig formulierten Regierungsanalysen von heute (selbst vertraulichen), die niemandem zu nahe treten wollen. Zweitens ist die Sichtweise, dass die muslimische Welt (die damals ein Siebtel der Weltbevölkerung ausmachte und heute ein Sechstel beträgt) die Stabilität der Welt gefährden könnte, scharfsinnig und bemerkenswert. Drittens konnten viele der Themen, die heute die Welt quälen, konnten vor zwei Generationen erkannt werden – die Frustration der Muslime, das Gefühl der Sehnsucht nach einer früheren Zeit, die politische Unbeständigkeit, die Anfälligkeit für extreme Ideologien und die Bedrohung des Weltfriedens. Das bestätigt einmal mehr, dass der 11. September und zugehörige Aggressionen hätten nicht der Schock gewesen sein dürfen, der sie waren.