Es ist eine besonders heikle Zeit in der türkischen Politik, zwischen einer ersten Runde der Wahlen im Juni, die ein Parlament ohne klare Mehrheitsverhältnisse brachten, und einer für den 1. November angesetzten zweiten Runde. Der hektische Vorlauf für diese Neuwahlen hat zunehmende Gewalt gegen die kurdische Minderheit des Landes erlebt, was im Juli mit einem Anschlag auf Friedensdemonstranten begann, der 33 Tote brachte; es folgten eine Flut kurdischer Racheanschläge auf Polizisten und Soldaten, eine komplette kurdische Stadt - Cizre - unter Belagerung und Kurden, die mit der Ausrufung autonomer Zonen reagierten.
Dann kam am 10. Oktober die schlimmste Gewalttat in der modernen türkischen Geschichte: ein zweifacher Bombenanschlag vor Ankaras Hauptbahnhof, bei dem mindestens 105 für türkisch-kurdischen Frieden Demonstrierende getötet und mehr als 400 verletzt wurden. Niemand übernahm die Verantwortung für den Anschlag, der Politiker und Analysten - einschließlich meiner selbst - zu intensiven Spekulationen über die Identität der Täter und was sie damit erreichen wollen veranlasste.
Die Bombe explodierte, als die Demonstranten in Ankara Arm in Arm tanzten. |
Die erste Vermutung, dass der Islamische Staat (oder ISIS, ISIL oder Daisch) diese Aktion gegen Türken eigenständig unternahm, macht keinen Sinn, denn obwohl die Kurden ISIS' wirkungsvollste Feinde im benachbarten Syrien sind, wäre ein Angriff auf sie in der Hauptstadt der Türkei gegen die Wünsche des türkischen Staats eine Dummheit, da ISIS stark von türkischer Hilfe abhängig ist und keine türkischen Luftangriffe provozieren will.
Die Beteiligung von ISIS muss unter Mitwissen des türkischen Geheimdienstes geschehen sein. Die Regierung hat ein Motiv: Erpicht darauf bei der nächsten Wahl die Mehrheit der Sitze zu erreichen, um sowohl Untersuchungen wegen Korruption aus dem Weg zu gehen als auch legitimen Machtzuwachs zu bekommen, hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan einen Quasi-Krieg gegen die Kurden der Türkei initiiert, in der Hoffnung damit türkisch-nationalistische Gefühle zu wecken. Der Bombenanschlag in Ankara passt genau in dieses Muster. Darüber hinaus bestätigt er die Geschichte der schmutzigen Tricks des türkischen Geheimdienstes - darunter einige gegen die Kurden - sowie ein Muster der Erfindung von Beweismitteln gegen innenpolitische Rivalen (wie das Militär oder die Bewegung von Fethullah Gülen).
Nicht weniger wichtig ist, dass Augenzeugen erzählten, dass die Polizei Tränengas einsetzte, "sobald die Bombe losging" und "die Krankenwagen nicht durchließ", was dazu führte, dass wütende Opfer die Polizeifahrzeuge angriffen.
Selahattin Demirtaş, Vorsitzender der prokurdischen Partei der Türkei, drückte genau diesen Gedanken poetischer aus: "Der Staat, der über den fliegenden Vogel und jeden seiner Flügelschläge informierte, war nicht in der Lage ein Massaker im Herzen Ankaras zu verhindern?" Bis weitere Informationen zur Verfügung stehen, sollten wir annehmen, dass die Hände des türkischen Präsidenten in diesen grauenvollen Vorfall verwickelt sind. (12. Oktober 2015)
Selahattin Demirtaş, türkisch-politische Führungspersönlichkeit, kommentierte den antikurdischen Bombenanschlag in Ankara. |